Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
bescheuert. Und er wirkte plötzlich so fern, dass sie das Gefühl hatte, einen Fremden vor sich zu haben. Er starrte auf einen Punkt gleich über dem Griff der Zimmertür und schwieg.
Und Zoé sagte sich, dass die Liebe doch kompliziert war.
Hortense hatte verkündet, dass die schönsten Prachtstraßen von Paris sternförmig vom Arc de Triomphe ausgingen. Und dass dort auch die schönsten Gebäude lagen. Und dass sie angesichts dieser edlen, ebenmäßigen Bauten ihre Idee finden würde. Sie hätte nicht erklären können, warum, aber sie wusste es. Sie ist da, behauptete sie, sie ist da, und wehe dem, der ihr widersprach.
Von morgens bis abends liefen Hortense und Gary die Avenue Hoche, die Avenue Mac-Mahon, die Avenue de Wagram, die Avenue de Friedland, die Avenue Marceau, die Avenue Kléber und die Avenue Victor Hugo auf und ab. Sorgsam mieden sie die Avenue de la Grande Armée und die Champs-Élysées. Hortense hatte sie aussortiert: Sie hatten ihre Seele verloren. Gesichtslose Läden, Leuchtreklamen, billige Effekthascherei und schnelle, geschmacklose Gastronomie hatten die einst von Baron Haussmann und seinem Architektenteam beabsichtigte architektonische Erhabenheit entstellt.
Hortense versicherte Gary, dass der helle Stein der Gebäude sie inspiriere. Der Geist wehe zwischen den Mauern von Paris, sagte sie. Jedes Gebäude war anders, jedes Gebäude war ein eigenständiger Entwurf, und trotzdem wies jedes Gebäude die gleichen, genau vorgeschriebenen Charakteristika auf: Fassaden aus Quadersteinen, Steine mit Randschlag, Balkone im zweiten und fünften Stock, durchgängige, schmale Balkone mit schmiedeeisernem Geländer, die Höhe der Gebäude je nach Straßenbreite streng begrenzt. Aus dieser Gleichförmigkeit war ein Stil entstanden. Ein unnachahmlicher Stil, der Paris zur schönsten Stadt der Welt machte. Warum, fragte sie sich, warum?
Es lag etwas Geheimnisvolles darin, etwas Rätselhaftes, etwas Ewiges. Wie im Chanel-Kostüm. Dem Saint-Laurent-Anzug. Dem Hermès-Carré. Der Levi’s-Jeans. Der Coca-Cola-Flasche. Der Vache-qui-rit-Schachtel. Der Ferrari-Motorhaube. Regeln, eine Linie, ein Aufriss, den man durchdekliniert, bis er zu einem weltweiten Klassiker wird.
Meine Schaufenster müssen dieses gewisse Etwas haben, das dafür sorgt, dass die Leute stehen bleiben, sich wundern, sich sagen, aber natürlich! Das ist Stil …
Nun musste sie nur noch dieses gewisse Etwas finden.
Sie griff nach Garys Kamera und fotografierte Balkone, Maskarone, steinerne Konsolen, Rundbogenfenster, hölzerne Türen. Sie skizzierte Gebäude, Fassaden und Profile. Mit gerunzelter Stirn versenkte sie sich in die Details jeder einzelnen Fassade, jeder einzelnen Tür. Gary folgte ihr, Melodien komponierend, Noten vor sich hin summend. Sein Klavierlehrer hatte ihn auf diese Idee gebracht: kurze Melodien komponieren über den Eingang zu einer Métro-Station, eine Taube mit gebrochenem Flügel oder die Schönheit eines Denkmals. Stets den Kopf voller Noten haben und sie ausbreiten. Er sollte ihm eine Postkarte aus Paris schicken. Um ihm zu sagen, dass er an ihn dachte, dass er glücklich war, ihm begegnet zu sein, dass er sich nicht mehr allein fühlte, seit er ihn kannte. Dass er sich wie ein Mann fühlte … Ein Mann mit Haaren auf der Brust, Problemen mit Mädchen, einem Bart, den man wachsen lässt oder auch nicht, einem Mädchen, das man flachlegt oder auch nicht. Es tat gut, diesen Mann in seinem Leben zu haben …
Er summte, summte vor sich hin.
Manchmal ging er Hortense auf die Nerven, manchmal lachte sie, manchmal bat sie ihn, still zu sein: Eine Idee war zum Greifen nah. Und dann atmete sie geräuschvoll aus: Die Idee war verflogen, und Gary umarmte sie und sagte, hör auf, dir Gedanken zu machen, dann kommt die Idee wie von selbst. Lass los. Lass los und entspann dich. Du bist dermaßen verkrampft, dass du dir die Luft zum Atmen nimmst …
Es war immer das gleiche Zeremoniell. Sie schlenderten umher. Hortense blieb stehen, schloss die Augen, streichelte den hellen Stein eines Gebäudes, ließ ihre Finger über jede Ausbuchtung wandern, verlor sich in den Kuhlen und den weich polierten Oberflächen, hielt inne wie der Wünschelrutengänger, der seine Rute schwenkt.
Gary murmelte, es sei doch Wahnsinn, sich von Steinblöcken derart rühren zu lassen. Er zitierte Ernest Renan. Behauptete, die Île Grande in der Bretagne sei von der Landkarte getilgt worden, weil Baron Haussmann sie dem Erdboden gleichgemacht habe,
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