Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
Nase, schneefarbenes Haar, goldene Augen mit kleinen gelben Tupfen, und als er sie eines Abends geküsst hatte, hatte sie zu schielen begonnen. Ihm hatte der Atem gestockt.
Er hatte sich gefragt, ob er es gut gemacht hatte.
Er sagte der kleinen Alten Lebewohl, die die Straße überquerte und dabei jedem zulächelte … Lebewohl dem Baum mit den krummen Ästen, Lebewohl dem Vogel, der seinen Schnabel in ein schmutziges Stück Toastbrot stieß, Lebewohl dem Fahrradfahrer mit dem rot-goldenen Lederhelm, Lebewohl, Lebewohl …
Sie werden verschwinden, sie werden sterben, sobald ich mich abgewandt habe, und was fühle ich dabei?
Nichts …
Ich sollte üben, etwas zu empfinden, redete er sich zu, während er übers Gras ging statt auf dem harten Parkweg. Ich bin doch nicht normal. Wenn man einfach nichts fühlt, ist das wie ein großes Loch im Inneren, und das macht mich verrückt. Es kommt mir vor, als wäre ich gar nicht auf der Erde.
Manchmal war ihm, als schwebte er über der Welt, als sähe er die Menschen aus weiter, weiter Ferne.
Vielleicht würde ich etwas fühlen, wenn wir zu Hause miteinander redeten. Das wäre wie ein Training für mich, und am Ende schlösse sich dieses große Loch in meiner Brust, das mich das Leben aus weiter Ferne sehen lässt. Zu Hause redeten sie nicht über seine Mutter. Niemand sprach das Thema an. Als wäre sie gar nicht tot. Als hätte er recht damit, nichts zu fühlen.
Er versuchte, mit Annie darüber zu reden, aber sie schüttelte den Kopf und antwortete, was soll ich denn dazu sagen, mein armer Junge, ich habe deine Mutter doch gar nicht gekannt.
Zoé und Joséphine. Mit ihnen hätte er reden können. Besser gesagt, Joséphine hätte die richtigen Worte gefunden. Sie hätte etwas in ihm geweckt. Etwas, was eine Verbindung zwischen ihm und der Erde hergestellt hätte. Dann wäre er nicht länger ein gleichgültiger Flieger.
Seinem Vater konnte er sich nicht anvertrauen. Dazu war das Thema zu heikel. Ihm schien sogar, als wäre sein Vater der Letzte, mit dem er darüber reden wollte.
Im Kopf seines Vaters musste es kompliziert zugehen. Da war seine Mutter, und da war Joséphine. Er wusste nicht, wie er es schaffte, sich da zurechtzufinden.
Ihn hätte es verrückt gemacht, zwischen zwei Mädchen zu stehen und sie beide zu lieben. Schon allein der Gedanke an den Kuss mit Annabelle füllte seinen gesamten Kopf aus. Das erste Mal, als sie sich geküsst hatten, war Zufall gewesen. Sie waren gleichzeitig an der Ampel stehen geblieben, hatten gleichzeitig den Kopf gedreht, und – zack! – hatten sich ihre Lippen berührt, und es hatte geschmeckt wie ein leicht süßes, leicht klebriges Blatt Löschpapier, das man sich auf die Lippen drückte. Er hatte es beim nächsten Mal wieder versuchen wollen, aber es war nicht mehr das Gleiche gewesen.
Er war schon wieder ins Flugzeug gestiegen. Er hatte sich von oben gesehen, er hatte die Empfindung verloren.
In der Schule oder auf Partys war er oft allein, weil er eine Menge Zeit mit seinem »Abschiednehmen«-Spiel verbrachte. Und von diesem Spiel konnte er natürlich niemandem erzählen. Irgendwie war ihm das auch lieber so. Denn wenn man ihn fragte: Warum wirst du immer von deinem Vater abgeholt? Wo ist deine Mutter?, dann wusste er nicht so recht, was er antworten sollte. Wenn er sagte, sie ist tot, machten der Junge oder das Mädchen ein komisches Gesicht, als hätte man ihnen ein schweres, eklig stinkendes Ding in die Hand gedrückt. Da war es doch einfacher, mit niemandem zu reden. Und keine Freunde zu haben.
Jedenfalls keinen besten Freund.
An all das dachte er, während er durch den Park ging, Grasklumpen lostrat, grün auf der einen Seite und braun auf der anderen, und es gefiel ihm, von Grün zu Braun zu wechseln, von Braun zu Grün, als er plötzlich innehielt, weil etwas Merkwürdiges seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Zunächst dachte er, es sei eine Vogelscheuche, die dort mit den Armen fuchtelte und in eine dieser großen, zylinderförmigen Mülltonnen hinabtauchte, die mitten im Park aufgestellt waren. Dann sah er, wie der Lumpenhaufen sich wieder aufrichtete, ein paar Sachen aus dem Mülleimer zog und sie unter einen weiten Poncho steckte, der unter dem Kinn von einer Klammer zusammengehalten wurde.
Was ist das?, fragte er sich, während er versuchte hinzusehen, ohne allzu direkt hinzusehen, um nicht bemerkt zu werden.
Es war eine alte, in vergammelte Lumpen gehüllte Frau. Vergammelte Schuhe, ein vergammelter
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