Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
Secondhandaugen, Augen, die schon viel erlebt hatten.
»Bist du verliebt, luv ?«
Er wurde rot.
»Du bist schon groß. Alt genug, um eine Freundin zu haben … Wie heißt sie?«
»…«
»Kennt deine Mama sie?«
»Die ist nicht mehr da.«
»Ist sie weggegangen?«
»Sie ist tot.«
Jetzt war es raus. Er hatte es gesagt. Zum ersten Mal. Am liebsten hätte er einen lauten Schrei ausgestoßen. Er hatte es gesagt.
» I’m sorry, luv …«
»Nein, schon gut. Das konnten Sie ja nicht wissen.«
»War sie lange krank?«
»Nein …«
»Ach so! Sie ist bei einem Unfall gestorben …«
»Ja, wenn Sie so wollen …«
»Willst du nicht darüber reden?«
»Nicht jetzt …«
»Vielleicht kommst du ja noch einmal vorbei und besuchst mich …«
»Sie hatte auch blaue Augen …«
»War sie traurig oder glücklich?«
»Ich weiß es nicht …«
»Ah … du weißt es nicht.«
»Eher traurig, glaube ich …«
Er suchte in seiner Tasche nach noch etwas Geld. Fand eine Fünfzigpencemünze und hielt sie ihr hin. Doch sie lehnte ab.
»Nein, luv , behalt sie … Es hat mich gefreut, mit dir zu reden.«
»Aber was werden Sie denn essen?«
»Lass das mal meine Sorge sein, luv .«
»Na gut, dann auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen, luv …«
Er ging davon. Sehr aufrecht, sehr steif. Er wollte unbedingt größer wirken. Okay, er hatte diesmal nicht sein bescheuertes Spiel gespielt, er hatte ihr nicht Lebewohl gesagt, nachdem er sich von ihr verabschiedet hatte, er hatte einfach nur Auf Wiedersehen gesagt, aber sie sollte auf keinen Fall glauben, dass er von jetzt an jeden Tag kommen und mit ihr reden würde. Man musste ja nicht gleich übertreiben. Er hatte mit ihr geredet, okay, aber er hatte nicht viel gesagt. Nur, dass seine Mutter tot war. Trotzdem … es war das erste Mal, dass ich darüber geredet habe. Er verspürte den Drang zu weinen, und er sagte sich, dass es ja wohl keine Schande sei, zu weinen, weil seine Mutter tot war. Das war sogar ein verdammt guter Grund.
Und da er den Blick der Alten in seinem Rücken spürte, drehte er sich um und winkte ihr zu. Sie muss einen Vornamen haben, sagte er sich, kurz bevor er in den Bus stieg. Sie muss einen Vornamen haben. Er ging am Fahrer vorbei, ohne seinen Fahrausweis zu zeigen, und wurde zurechtgewiesen. Er entschuldigte sich.
Der Fahrer war nicht zu Scherzen aufgelegt.
Es war nur so, als Alexandre den Fuß in den Bus setzte, hatte ihn plötzlich die Angst gepackt, sie niemals wiederzusehen.
Zoé warf ihre Schultasche aufs Bett und schaltete den Computer ein.
Zwei Nachrichten. Von Gaétan.
Du Guesclin kam hereingestürmt und drängte sich zwischen ihre Beine. Sie nahm seinen Kopf in die Hände, rubbelte und kraulte ihn. Ja doch, summte sie leise, ich weiß doch, mein Schwarzer, mein Hässlicher, ich weiß, dass ich dir gefehlt habe, aber du musst verstehen, Gaétan hat mir geschrieben, und ich kann mich nicht nur um dich kümmern … Ist Maman noch nicht zurück? Sie kommt sicher gleich, keine Sorge!
Du Guesclin lauschte mit geschlossenen Augen Zoés Melodie und schmiegte sich mit wiegendem Kopf an sie. Als sie verstummte, legte er sich neben ihren Schreibtisch und streckte die Pfoten aus, als hätte er sich für diesen Tag genug bewegt.
Zoé zog ihren Mantel und ihren Schal aus, stieg über Du Guesclin hinweg und setzte sich an den Computer. Um ihre Nachrichten zu lesen. Langsam. In aller Ruhe. Das war ihr tägliches Rendezvous, wenn sie aus der Schule kam.
Gaétan lebte in Rouen, seit die Schule wieder angefangen hatte. In einem kleinen Haus in Mont-Saint-Aignan, das seine Großeltern seiner Mutter zur Verfügung gestellt hatten. Er ging in die zehnte Klasse einer Privatschule. Er hatte keine Freunde. Ging nach der Schule keinen Kaffee trinken. Gehörte zu keiner Clique. Ging nicht auf Partys. War nicht bei Facebook. Er hatte seinen Nachnamen ändern müssen.
»Ich weiß nicht mal mehr, wie ich heiße. Ich schwör dir, beim Appell dauert es eine Stunde, bis ich merke, dass die mit ›Mangeain-Dupuy‹ mich meinen!«
Zoé fragte sich mittlerweile, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, dass er seinen Namen geändert hatte. Okay, in den Zeitungen war viel über seinen Vater berichtet worden, aber nach einer Woche hatte sich das Interesse der Öffentlichkeit einer anderen, genauso schauerlichen Geschichte zugewandt.
Seine Großeltern hatten darauf bestanden. Gaétan war ein Mangeain-Dupuy geworden. Er trug nun den Namen der familieneigenen
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