Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
haben eine schwierige Phase im Moment. Stefanie kommt einfach mit Mario nicht klar.» Mario war Evas Freund, der «Perverso», wie Stefanie ihn nannte. «Weißt du, wie lange es her ist, dass ich mit einem Mann glücklich war? Dass ich mich geliebt fühle? Aber kann ich das jetzt genießen? Nein, das wäre ja zu schön! Ich stehe immer zwischen den beiden. Mario und ich wollten diesen Sommer eine Motorradtour durch Amerika machen. Ohne Stefanie. Nur er und ich, einen ganzen Monat lang. Der Indientrip mit Gion hätte gerade gut gepasst, aber jetzt … ich weiß halt auch nicht …»
«Sie kann den Sommer mit mir verbringen», sagte Marie.
«Bist du sicher?» Eva schaute auf. «Mit dir?»
«Wenn sie das will …»
«Das wäre natürlich … das wäre ideal.»
«Ja», sagte Marie, «das wäre es.»
Nachdem Eva gegangen war, räumte sie ihren Schreibtisch auf. Als sie die Berichte über Mira Bolliger-Mehmeti ordnete, fand sie die Patientenakte wieder, die sie gar nicht gesucht hatte. Sie las sie noch einmal durch und fasste dann das Wichtigste auf einem gelben Post-it-Zettel zusammen: Bolliger, Wolf, 6. 12. 2009 Kiefer, 14. 3. 2010 Nasenbein, 24. 6. 2010 Radius, 11. 2. 2011 Kiefer, 28. 6. 2011 Jochbein.
pari ṇā mat ā pasa ṃ sk ā radu ḥ khairgu ṇ av ṛ ttivirodh ā acca
du ḥ khameva sarva ṃ vivekina ḥ
Leid ist allgegenwärtig, dieser Erkenntnis kann man
sich nicht entziehen. Leid wird durch
das Bewusstsein der Vergänglichkeit ausgelöst,
durch Sehnsucht, durch Abhängigkeit
und durch innere Konflikte.
Patanjali Yoga Sutra 2 . 15
Nevada
Nevada lag unter einem Stein. Sie sah es von oben, wie eine Kinderzeichnung, der große graue Felsbrocken, unter dem nur ihre Hände und Füße hervorschauten. Sie zappelten ein bisschen und lagen dann still. Der Stein war zu groß. Er hatte sie ganz unter sich begraben. Von weit oben sah sie zu, wie sie zerquetscht wurde, sie sah es ohne Bedauern, was wurde ihr nicht alles erspart durch die Gnade dieses Felsens, der auf ihr lag. Professor Kaiser würde sich mit ihr freuen, dachte sie. Doch dann wurde der Stein plötzlich leichter, als würde ihn jemand langsam hochheben. Hanuman, dachte Nevada. Um einen in der Schlacht verwundeten Bruder von Rama zu retten, suchte er den Himalaya nach einem bestimmten Heilkraut ab. Er hatte nur eine Nacht Zeit dafür, vor dem Morgengrauen musste der Arzt es verarbeiten können, sonst war alles verloren. Hanuman suchte und suchte, aber er konnte das richtige Kraut nicht finden. Mit der Kraft der Verzweiflung hob er kurzerhand einen ganzen Berg hoch, trug ihn zum Schlachtfeld und legte ihn dem Arzt Sushena vor die Füße.
Plötzlich war Nevada wieder in ihrem Körper. Und das war sehr unangenehm. Sie rang nach Luft, sie öffnete die Augen. Sobald sie wieder atmen konnte, hatte sie auch wieder Schmerzen. In der Kehle, in den Augen, überall. Sie röchelte und hustete. Eine Hand stützte ihren Rücken, half ihr, sich aufzurichten, sie hustete noch mehr, dann begann sie zu weinen. Die Hand hielt sie fest. Sie war aus demselben grauen Felsen geschlagen, der auf ihr gelegen hatte.
Die Hand hatte versucht, sie umzubringen. Nevada zog die Nase hoch. Sie wich der Hand aus.
«Es tut mir leid», sagte Wolf.
«Ja», sagte Nevada. «Ich weiß.» Allen tat immer alles leid.
Bevorstehendes Leid, das man voraussehen konnte, sollte man möglichst vermeiden. Es war alles gar nicht so schwierig. Man musste sich nur etwas überlegen. Man musste aufpassen. Nevada wischte sich ein paarmal übers Gesicht und schaute sich um. Sie saß auf ihrem Bett. Wolf kniete vor ihr. Seine Brille war verrutscht. Er sah aus, als hätte er geweint. Nevada wich noch ein Stück weiter von ihm zurück, bis sie sich an die Wand lehnen konnte. Sie zog ihre Knie an und legte die Arme darum. Machte ein Päckchen aus sich. Erinnere dich an die, die du bist, dachte sie. Sie war Poppys Lehrerin. Ihre Aufgabe war es, Poppy zu helfen, ihre Bestimmung zu erfüllen.
Yoga ist nicht Selbstzweck. Er erfüllt sich nicht in einer perfekt ausgeführten Stellung, in einem guten Körpergefühl, einem schmerzfreien Rücken. Yoga befreit den Geist von allem Störenden. Yoga ist Mittel zum Zweck: Nur mit einem solcherart befreiten, klaren Kopf kann man sein, wer man ist, kann man seine Aufgabe so gut wie möglich erfüllen, dem größeren Ganzen von Nutzen sein.
Nevada glaubte nicht, dass es Poppys Dharma war, sich in einer Gefängniszelle zu
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