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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Gaspedal und rutschte ab. Der Motor hustete und keuchte, während sie versuchte, ihren Fuß zum Gehorsam zu zwingen. Er hatte nicht genug Kraft, um das Pedal hinunterzudrücken, und rutschte immer wieder seitlich weg. Nevada dachte an den Unfall, den sie während ihrer Fahrprüfung verursacht hatte. Dramatisch hatte ihre Karriere als Autofahrerin begonnen, dramatisch sollte sie nicht enden. Sie zog den Schlüssel ab, stieg aus, schloss den Wagen ab und ging zurück in den Polizeiposten. Ihre Füße verhielten sich tadellos. Nevada würde ihnen nie wieder trauen.
    Sie trat vor den Schalter. «Hier ist noch der Autoschlüssel von Wolf Bolliger», sagte sie.
    Als sie zur Fabrik am Wasser zurückkam, war gerade die letzte Abendlektion zu Ende. Verschwitzte Yogaschüler kamen Nevada entgegen, darunter Nadine, die den Blick abwandte. Die Yogaschüler umspülten Nevada wie Wasser. Sie glitt zwischen ihnen hindurch. Sie war unsichtbar.
    Auf der ersten Etage blieb sie stehen. Ihre Beine waren schwer. Sie schaute die Treppe an, die sich vor ihren Augen ins Endlose verzerrte. Dann schloss sie das Studio auf. Sie würde sich einen Moment ausruhen und ihre Kräfte für den Aufstieg in den zweiten Stock sammeln.
    Nevada musste das Licht nicht anzünden, um den Weg in den kleineren Saal zu finden. Gedämpft fiel das graue Licht der Straßenlaternen durch die großen Fenster. Es reichte nicht bis in alle Winkel, es verwandelte die Statue des Elefantengottes in einen gebückt kauernden Bettler und die in der Ecke gestapelten Matten in einen Drachen. Doch Nevada würde sich blind zurechtfinden. Sie nahm sich eine Matte vom Stapel, eine Wolldecke und ein Sitzkissen aus dem Regal und ging zur nächstliegenden Wand. Sie rollte die Matte aus, legte sich auf den Rücken und versuchte dann, ihre Beine an die Wand zu legen. Sie musste mit beiden Händen nachhelfen. Schließlich legte sie sich das schwere, sandgefüllte Kissen auf den Unterleib. Das Gewicht löste einen dumpfen Schmerz in ihrem Becken aus. Sie atmete dagegen an. Und plötzlich sah sie die flache Metallschatulle wieder, direkt unter dem Kissen, zwischen ihren schmerzenden Beckenknochen eingeklemmt. Auf dem Deckel des Kästchens sah sie ein Warnzeichen wie in einem Cartoon, eine groteske Fratze, mit roten Balken durchkreuzt, lächerlich eigentlich. Trotzdem erfüllte sie plötzlich kalte Angst. Sie atmete weiter. Sie sah eine Hand das Kästchen tiefer und tiefer nach unten drücken. Plötzlich war die Hand weg, und das Metallkästchen löste sich auf. Das Bild von dem kleinen Mädchen schwebte frei in ihrem Unterleib. Es drehte sich leicht hin und her und veränderte sich in der Bewegung wie ein Vexierbild. Das Kind war sie. Der angestrengte, sorgenvolle Blick war ihrer, das kurzgeschnittene dunkle Haar. Nevada versuchte, das Bild genau zu sehen, doch es hielt nicht still.
    Nevada atmete langsam weiter. Sie war das kleine Kind. Sie schaute auf ihre eigenen dicken Beinchen hinunter, die in weißen Söckchen mit Lochmuster steckten. Das Gummiband schnitt die Wade ein, teilte das kindliche feste Fleisch. Sie trug glänzend rote Lackschuhe mit einem Riemen über den Fuß und einer goldenen Schnalle. Sie sah die Hosenbeine, auf denen sie saß, helle, verwaschene Jeans, über dem Knie zerrissen. Sie sah sich einen dicken kleinen Finger in das Loch stecken, die Haut darunter kitzeln, sie hörte sich beglückt auflachen. Dann drückte etwas hart gegen ihren Rücken, und sie schrak auf. Jetzt schaute Nevada von oben auf die beiden hinab. Benis Haar war noch dunkel und gelockt, wie ihres. Sie erinnerte sich, dass sie mit knapp zwei Jahren Läuse gehabt hatte, dass man ihr blondes, glattes Haar ganz kurz geschoren hatte. Und dass es dunkelbraun und gelockt nachgewachsen war. Wie das ihres Vaters. Er trug ein Jeanshemd und verwaschene Jeans und war barfuß. Er roch nach Alkohol, Rasierwasser, Schweiß und Rauch. Seine Hände langten von hinten um das kleine Kind herum und zogen es zu sich, immer wieder und wieder zu sich, gegen seinen Schoß. Er legte den Kopf zurück. Tränen rannen über seine Wangen. «Was machst du mit mir?», stöhnte er. «Was machst du mit mir?»
    Das kleine Mädchen lachte nicht mehr. Es saß ganz still. Dann griffen seine Hände um den Kinderkörper herum und zwischen die dicken kleinen Beine. Nevada konnte von oben die knochigen Daumen sehen, die sich unter das karierte Kleidchen schoben. Ein brennender Schmerz durchfuhr sie. Sie schrie auf und stieß das Kissen

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