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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Sie stand neben Nadine und blickte auf Nevada hinab, die aus der engen Öffnung in der Wolldecke hinausblinzelte.
    «Jetzt reicht es aber», sagte Lakshmi.
    Nevada war ganz ihrer Meinung.
     
Marie
     
    Marie wusste, was sie zu tun hatte. Sie rief den übernächtigten Assistenzarzt Maurer und bat ihn, die Röntgenbilder von Mira Bolliger-Mehmeti zu holen.
    «Jetzt?» Er schaute auf die Uhr. Vermutlich war er seit zweiundsiebzig Stunden auf den Beinen. Marie erinnerte sich gut an diese Müdigkeit. Manchmal dachte sie, dieser Teil der Ausbildung gleiche einem mittelalterlichen Ritual, einer Prüfung, die nichts mit medizinischem Können zu tun hatte, sondern mit magischen Fähigkeiten: Nur wer den schwarzen Drachen Schlaf in Schach halten kann, dem gelingt es vielleicht auch, seinen durchsichtigen Bruder zu bekämpfen, den Tod. Marie war davon überzeugt, dass Schlafmangel, wie ihn junge Mütter und angehende Ärzte erlebten, nicht mehr aufzuholen war. Bis zu ihrem Lebensende würden ihr diese Nächte fehlen, sie saßen noch in ihren Knochen, sie zerrten an ihrem Gemüt. Es war kein Zufall, dass Marie mit solcher Zärtlichkeit an ihrem Bett hing. Und dass sie es so schlecht ertrug, wenn es ihr genommen wurde. Immer wieder dachte sie an den großen Streit mit Stefanie. Satz für Satz ging sie ihn durch und reagierte jedes Mal gelassener, einfühlsamer. Stefanie wusste noch nicht, dass sie den Sommer mit Marie verbringen würde. Eva wollte es ihr erst im letzten Moment sagen. Und auch Gion im Glauben lassen, sein Fernsehprojekt würde verwirklicht werden. «Ein bisschen Rache muss schon sein», hatte sie gesagt. Auch Marie ging strategisch vor. Sie hatte die Kündigung eingereicht und sich, während der Krankenhaustratsch sie nach Indien schickte, um drei Hausarztstellen beworben. Sie lagen alle nicht in der Nähe des Dorfs, in dem ihre Eltern wohnten. Sie hatten sich trotzdem über ihre Entscheidung gefreut.
    «Ich bin froh, dass du gehst», hatte ihr Vater gesagt. «Gion ist ja charmant, aber er ist kein Mann für dich. Er war nie gut genug für dich, Marili, und es tat mir weh, dass du das nicht gesehen hast.»
    «Besser spät als nie.» Verlegen hatte sie den Hörer aufgelegt. Ihr Vater wurde selten sentimental.
    Maurer kam mit den Röntgenbildern zurück, einem unförmigen Umschlag, der nicht unter seinen Arm passte und den er ungeschickt in den Händen hielt. Marie nahm die Bilder heraus und klemmte sie an die Leuchtwand. «Was sehen Sie?»
    Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Warum ich?, sagte seine Haltung. Was habe ich getan? Sie fühlte mit ihm. Was hatte er getan? Er war groß und hatte einen Schädel wie ein Stier und einen kurzgeschnittenen schwarzen Bart. Es kommt noch schlimmer, Maurer, dachte sie.
    «Nun?»
    Er trat näher. «Einfache Fraktur der Clavicula links, sieht man oft bei Kindern, Rotationsfraktur der Ulna rechts … Immer dieselbe Patientin?»
    «Was fällt Ihnen auf?»
    «Hmm …» Er zögerte. Nur jetzt nichts Falsches sagen. Seine Gedanken mussten sich weich anfühlen, schwer fassbar. Die Müdigkeit war wie eine Behinderung. Plötzlich dachte Marie wieder an Nevada: Die Fatigue war das schlimmste Symptom der MS. Führte zu Depressionen, Suizidgedanken … Sie konzentrierte sich wieder auf Maurer.
    «Sehen wir oft im Notfall», sagte der. «Das sind eigentlich typische Prügelverletzungen.»
    Die Notaufnahme behandelte nachts und am Wochenende vor allem junge Männer, die entweder ihre frisierten Wagen zu Schrott gefahren oder sich gegenseitig spitalreif geprügelt oder mit Messern lebensgefährlich verletzt hatten. «Sehr gut, Maurer. Genau darum geht es. Bei der Patientin handelt es sich um eine verheiratete Frau, es besteht Verdacht auf häusliche Gewalt. Die Verletzungen sind dieselben wie bei den männlichen Prügelopfern, die wir hier immer sehen. Nun überlege ich mir – und das könnte ein Artikel werden, Maurer, Sie könnten mir bei der Recherche helfen, ich würde Ihren Namen nennen! – ich überlege mir: Zwei ganz unterschiedliche Patientengruppen, misshandelte Frauen und junge Männer. Dieselben Verletzungen. Dieselben Wiederholungsmuster. Was ist die Verbindung?»
    «Junge Männer haben Mütter», sagte Maurer sofort.
    Marie blickte ihn erstaunt an. Sie hatte sehr viel länger gebraucht, um zu einem ähnlichen Schluss zu kommen, und sie hatte ihn weniger klar formuliert. Gewaltmuster in der Familie, weitergegeben von Generation zu Generation, hatte sie gedacht.

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