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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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von sich. Sie konnte sein Gewicht nicht mehr ertragen. Sie rollte sich auf die Seite, presste die Beine zusammen und würgte, würgte, bis sie sich auf den Fußboden erbrach.
    Sie hatte den ganzen Tag außer ein paar Trockenfrüchten und Nüssen nichts gegessen. Dicker, saurer Saft füllte ihren Mund, quälte sich über ihre Lippen, ergoss sich über die Matte und den glänzenden Holzboden. Sie rollte sich auf die andere Seite und versuchte, davon wegzukriechen. Von dem Ekligen. Von dem Schmerz.
    Auf allen vieren kroch sie zu den Yogamatten in der Ecke. Der Stapel war nicht hoch, zwanzig Matten lagen übereinander. Sie kroch auf sie hinauf, zog eine Decke über sich, sie rollte sich zusammen, wickelte sich ganz in die Decke ein, nur ihre Nase schaute hinaus. Nevada weinte und weinte. Immer wieder sah sie die Daumen ihres Vaters vor sich. Sie krümmte sich vor Ekel. Vor Schmerz. Nein, nein, nein. Das durfte nicht, konnte nicht wahr sein. Die Bilder ließen sich nicht wegschieben. Nach einer Weile wurde das Würgen schwächer, das Weinen. Aus dem bodenlosen Schmerz wuchs etwas anderes. Nevada erkannte es erst nicht. Es war blau. Es passte nicht in dieses abgrundtiefe, schwarze Loch.
    Endlich, dachte Nevada, und: Gott sei Dank. Das Blaue wurde größer. Sie erkannte das Gefühl als Erleichterung. Endlich und Gott sei Dank. Jetzt wusste sie, wer sie war. Sie wickelte sich noch enger in die Decke ein. Eine ihrer Schülerinnen, eine Hebamme, hatte ihr einmal erklärt, dass man kleine Kinder ganz eng in ein Tuch wickeln müsse, damit sie aufhören zu schreien. Damit sie sich sicher fühlen.
    Dass sie sich nie sicher gefühlt, dass sie nie wirklich dazugehört hatte, dass sie sich immer so sehr anstrengen musste und sich doch nie entspannen konnte, dass sie nie gut genug gewesen war – das alles schien ihr plötzlich schlüssig. Es gab einen Grund dafür. Nevada atmete immer ruhiger. Alles war klar. Alles war gut.
    Avidya, dachte sie. Falsche Wahrnehmung. Verwechslung. Sie war der Grund dafür, dass man das, was man wahrnahm, nicht von der eigenen Person trennen konnte, und das wiederum war die Ursache allen Leidens. Aber was, dachte sie, was, wenn falsche Wahrnehmung nicht nur eine störende Kraft war, sondern auch eine schützende? Sie hatte immer nur so viel gewusst, wie sie ertragen konnte. Nur immer so viel gesehen, dass sie nicht blind wurde. Avidya hatte sie wie eine Nebeldecke eingehüllt, wie diese Wolldecke hier. Sie hatte verhindert, dass sie sich einer Realität stellte, die sie nicht aushalten konnte. Während sie unter der Nebeldecke der falschen Wahrnehmung wie in einem Kokon versponnen lag, hatte sie sich auf das Unausweichliche vorbereitet, sie hatte trainiert. Yogastellungen sind so unbequem wie das Leben. Oft wird ihre wohltuende Wirkung erst durch das Lösen der Stellung angeregt, wenn das Blut wieder fließt. Nevada hatte gelernt, in einem absurd verschraubten Körper ruhig weiterzuatmen. Sie hatte trainiert, sitzen zu bleiben, wenn sich ihre Gedanken in den Schwanz bissen und in endlosen Kreisen abwärts taumelten. Sie hatte gelernt, sich selber auszuhalten. Sie hatte es lange genug geübt.
    Sie dachte an Wolf. Ein Wahn hatte sie befallen. Warum? Um Poppy zu retten, die ihre Schülerin war? Das war nicht der Grund dafür. Wolf hatte den Nebel zerrissen. Wolf war wie sie. Beschädigte Ware. Er hatte sie erkannt, und sie ihn.
    Sie war beschädigte Ware, aber keine Fehlkonstruktion. Sie war verletzt worden, es war eine Narbe zurückgeblieben, das war alles. Sie war nicht zerbrochen. Sie war nicht kaputt. Auch wenn sie krank war und nicht geheilt werden konnte: Sie war nicht die Krankheit. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen auf den Knien ihres Vaters. Sie war kein Opfer.
    Yoga würde Nevada nicht von Krankheit und Schmerz befreien. Yoga half ihr, mit Krankheit und Schmerz zu leben, ohne sich damit zu identifizieren. Ihre Narben zu kennen, mit ihnen zu leben, ohne sich von ihnen bestimmen zu lassen.
    Sie lag in der Decke eingewickelt wie eine Raupe. Tränen liefen über ihr Gesicht und hin und wieder würgte es sie. Und doch wusste sie mit absoluter Gewissheit, dass sie in Ordnung war. Dass sie die Decke abwerfen und aufstehen würde, sobald sie es konnte.
    Oder wenn Nadine sie weckte. Die plötzlich über ihr stand.
    «Das ist ja widerlich. Das putze ich nicht auf!»
    Widerlich, widerlich, widerlich, dachte Nevada. Alles war sofort wieder da.
    Nadine rief Lakshmi, die in wenigen Minuten im Studio war.

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