Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
eingerichtet und makellos sauber war. Marie fragte sich, wie es in einem Haus, in dem zwei kleine Kinder lebten, so aussehen konnte.
«Hier durch», sagte Mira und führte sie in die Küche. In der Küche war es hell. Es roch nach Kaffee und einem starken Gewürz. Auf dem Herd brodelte etwas in einem Topf. Marie kannte den Geruch: Rhabarberkonfitüre. Auf dem Küchentisch lag ein Bilderbuch aus wattiertem Plastik, ein Malblock und Stifte. In einem Hochstuhl saß ein dicker Junge und lachte breit, aber vollkommen tonlos. Auf dem Tablett vor ihm lagen ringförmige Frühstücksflocken, die er mit seinen Patschhändchen einzeln aufzunehmen versuchte.
«Möchten Sie Kaffee?»
«Sehr gerne», sagte Maurer und schaute sehnsüchtig die funkelnde neue Kapselmaschine in der Ecke an. «Zweimal schwarz, wenn es geht.»
Mira winkte ab. «Ich hab was Besseres für Sie», sagte sie und nahm ein kleines, goldfarbenes Metallkännchen vom Herd. «Nun schauen Sie nicht so schockiert, Sie halten mich doch eh für eine Türkin!»
«Sie unterschätzen mich», sagte Maurer. «Was glauben Sie, wo ich herkomme?»
«Sie? Maurer?»
«Sie heißen ja auch Bolliger!»
«Ja, aber ich habe einen Schweizer geheiratet.»
«Meine Mutter auch.» Maurer grinste. Mira schenkte die schäumende süße Flüssigkeit langsam in sehr kleine Tassen.
«Das», sagte Maurer zu Marie, «das ist ein Zaubertrank. Der wird uns drei Stunden lang hellwach und klar und fröhlich machen!»
Marie schaute von Maurer zu Mira und von Mira zu Maurer. Was geschah hier? Flirteten sie? In dieser Situation? Marie schämte sich, dass sie nichts über Maurer wusste. Sie hatte ihn nur deshalb ausgesucht, weil er stark aussah. Das war alles. Jetzt war sie nicht mehr sicher, ob ihre Wahl eine gute gewesen war. Sie fühlte Serenas dunklen Blick. Das Mädchen beobachtete dasselbe wie sie. Marie lächelte ihm mit einer Zuversicht zu, die sie nicht verspürte.
«Danke», seufzte Maurer. Er hielt die kleine Tasse unter seine Nase und schloss die Augen.
Mira riss ihren Blick von ihm los und schaute Marie an. «Nun, was wollen Sie von mir?» Die Höflichkeiten waren beendet.
«Frau Bolliger …»
«Nennen Sie mich nicht immer so. Ich heiße Mira.»
«Marie.»
«Zlotan», sagte Maurer, doch die Frauen beachteten ihn nicht mehr. Mira hob ihre Tochter auf ihren Schoß. Beide sahen prüfend zu Marie hoch, die sich fühlte, als müsste sie einen Test bestehen.
«Also, Mira, ich habe mir deine Unterlagen noch einmal angeschaut, und zwar bis zu deinem ersten Besuch bei uns zurück. Dabei ist mir aufgefallen, dass du immer wieder Knochenbrüche erlitten hast …»
Mira nickte. «Ich bin halt ungeschickt», sagte sie.
«Ich auch», sagte Serena ernst. «Ich bin vom Bett gefallen.»
Mira drückte sie fester an sich. «Du nicht», sagte sie streng. «Du bist nicht ungeschickt.»
Das Mädchen lachte. «Mama! Du tust mir weh!» Dann verstummte es sofort wieder.
«Du auch nicht, Mira.» Marie atmete tief ein. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Kinder bei dem Gespräch dabei sein würden. Sie hatte es sich anders vorgestellt, ein Fehler, wie sie jetzt erkannte. «Diese Art von Knochenbrüchen, vor allem in dieser Häufigkeit, sehen wir eigentlich nur bei Jugendlichen, die sich prügeln, oder bei Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt sind.» Mira wollte sie unterbrechen, doch Marie sprach einfach weiter. «Seit der Geburt deines Sohnes hier hattest du keine solchen Verletzungen mehr, dafür immer wieder diffuse Unterleibsbeschwerden, die wiederum auf sexuellen Missbrauch schließen lassen. Tut mir leid, wenn ich das so offen ausspreche, vor den Kindern, aber lass mich zum Punkt kommen. Du brauchst Hilfe, und du kannst sie bekommen. Pack deine Sachen zusammen, wir bringen euch ins nächste Frauenhaus.»
«Er ist ein guter Vater», flüsterte Mira. «Er würde seinen Kindern nie etwas antun.»
«Mira. Du bist immer wieder zu uns gekommen, weil du etwas von uns wolltest. Du wolltest Hilfe. Von uns. Lass uns helfen!»
«Das versteht ihr nicht.» Mira hatte ihre Arme um Serena geschlungen und drückte sie an sich wie ein Kissen. Das Mädchen wand sich. «Er hat mich nicht missbraucht. Ich will einfach nicht mehr. Deshalb tut es weh.»
«Mira, wenn es gegen deinen Willen passiert, dann ist es Missbrauch», sagte Marie streng. Sie fühlte sich unsicher, als würde sie aus einem Lehrbuch zitieren. Marie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie zu viel Glück gehabt hatte, um eine
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