Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Nevada fühlte die große Hand, die sie hielt, sie und ihre Schwester, auf dem Rücken liegend, rauchend.
Poppy
Als sie verhaftet worden war, hatte sie ihre alten Cowboystiefel getragen. Sie war froh darüber. Wie sonst sollte sie aus dem Gefängnistor treten, wenn nicht auf den schiefgetretenen Absätzen ihrer treuen, schwarz-silbern bestickten Glücksstiefel? Sie trug ihre Habseligkeiten in einer Papiertüte vom gefängniseigenen Lebensmittelladen in der Hand, ein rotes Tuch um den Hals. Die Kratzer auf ihrem Gesicht waren fast verheilt. Frau Meier hatte ihr einen Abdeckstift gebracht, mit dem sie die letzten Spuren übermalt hatte. Automatisch stellte sie sich mit dem Gesicht zur Wand auf die gelben Fußabdrücke, während sie darauf wartete, dass das Tor geöffnet wurde.
Frau Meier lachte, fasste sie an der Schulter und drehte sie sanft herum. «Auf dem Weg hinaus ist das nicht mehr nötig!»
Poppy lachte verlegen mit. «Ich muss mich wieder umgewöhnen», sagte sie. Ob sie das konnte?
Frau Meier machte eine Bewegung auf Poppy zu, als wollte sie sie umarmen. Dann überlegte sie es sich anders, nahm ihre Hand und schüttelte sie. «Auf Wiedersehen, Frau Schneider. Oder besser, auf Nichtwiedersehen, auf jeden Fall nicht hier!»
Mit einem Klicken wurde die Tür geöffnet, die Beamten in der Kontrollstation winkten fröhlich durch die Scheibe, und Poppy verließ das Zentralgefängnis durch den Hauptausgang, zusammen mit Besuchern und Beamten, deren Schicht zu Ende war. Sie ging über den Hof. Die Sonne schien, und es war heiß. Poppy legte den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel hinauf. Der Himmel war so blau, dass er ihren Augen weh tat. War der Himmel immer schon so blau gewesen?
High Noon , dachte Poppy und schlug ihre Absätze zusammen. Sie zwängte sich durch eine eiserne Drehtür, die Plastiktüte an die Brust gepresst. Dann war sie draußen. Die Wiese, die das Gebäude umgab, blendete sie in einem grellen Grün, wie Poppy es noch nie gesehen hatte. Plötzlich erinnerte sie sich an einen Segeltörn, den sie und Peter einmal mitgemacht hatten, und wie nach zwei Wochen auf See die Farben an Land geleuchtet, wie die Rot- und Gelbtöne sie körperlich spürbar angefallen hatten. Wie lange war sie nicht draußen gewesen?
«Poppy!»
In dem Film, in dem Poppy mitspielte, wäre sie jetzt allein nach Hause gegangen, auf schiefgetretenen Absätzen, sich in den Hüften wiegend, eine einsame …
… Wölfin. Der Schmerz schlug über ihr zusammen. Wolf.
Unter Poppys T-Shirt, unter ihrem ausgeleierten Büstenhalter war eine Wunde, die von außen nicht zu sehen war. Ein großes blutendes Loch. Eine Abrissbirne hatte sie mitten in die Brust getroffen, ihre Rippen zertrümmert, ihr Herz zerquetscht. Unter ihren Kleidern tropfte das Blut unaufhaltsam aus ihr hinaus, dickflüssig und zäh. Es legte Spuren. Wo immer sie hinging, der Schmerz folgte ihr, das Blut, es zeichnete ihren Weg nach, der nirgendwohin führte. Der Schmerz war wie ein Tier, das manchmal schlief, manchmal den Kopf hochriss und die Zähne bleckte und sich dann wieder hinlegte. Poppy würde lernen müssen, mit diesem Tier zu leben. Sie hatte eine Liste von Dingen angelegt, die sie lernen musste.
«Juhu!» Auf dem Parkplatz stand Julia vor ihrem vernünftigen kleinen Wagen, den sie liebevoll ihre Hausfrauenschüssel nannte, und winkte. Auf dem Rücksitz saßen die Buben. Sie waren nicht ausgestiegen. Poppy stopfte das Schmerztier zurück in ihre Brust, wo es sich widerwillig zusammenrollte. Sie ging auf Julia zu, die sie umarmte.
«Poppy, du Ärmste! Was hast du durchgemacht!»
Keine Vorwürfe. Poppy bückte sich und schaute durch das Fenster. Ihre Söhne saßen zusammengesunken auf dem Rücksitz, Stöpsel in den Ohren, Geräte in den Händen, jeder in seiner eigenen virtuellen Welt versunken.
«Ach, du weißt doch, wie Teenager sind», sagte Julia fröhlich. Sie riss die hintere Tür auf. «So, kommt jetzt, steigt aus, begrüßt eure Mutter!»
Florian nahm als Erster die Stöpsel aus seinen Ohren, schaltete das Gerät aus und steckte es in seine Hosentasche, sorgfältig, methodisch, während Lukas sich in seinen Kabeln verhedderte, in seiner Hosentasche einen Zettel fand, den er mit gerunzelter Stirn studierte. Bevor er sich daran erinnerte, dass er seinen MP-3-Player ausschalten wollte.
Florian kam steifbeinig um das Auto herum und nahm seine Mutter ungeschickt in die Arme. «Wie geht es dir?», fragte er höflich. «Hast du
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