Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
die Hoffnung niemals auf. Und eines Tages fanden sie sie. «Die Rettung!» Nevada spielte immer neue Versionen in ihrem Kopf durch. Doch ihre liebste war die: Nevada tanzte die Hauptrolle in einer Ballettaufführung. Ihre richtige Mutter und ihre Schwester saßen im Publikum und erkannten sie sofort. Beim Schlussapplaus stürmten sie auf die Bühne, nahmen sie in die Arme und brachten sie dann nach Hause, so wie sie war, in ihrem Kostüm, als Giselle, als sterbender Schwan.
Sie wohnten in einem gemütlichen kleinen Haus, das immer gut geheizt war, und in dem alles alt war, abgeschabt und weich. Und der Kühlschrank war voll, voll, voll. Nevada saß mit ihrer Zwillingsschwester auf einem durchgesessenen alten Samtsofa, auf dem ganz viele Kissen und Decken lagen, sie saßen aneinandergekuschelt und aßen Karameleis mit großen Suppenlöffeln direkt aus der Packung. Ihre Mutter setzte sich dazu, sie brachte ihnen heiße Schokolade mit hübschen Sahnehäubchen, sie langte mit ihrem eigenen Löffel zu, auch ihre Mutter war weich und warm. Sie nahm sie in die Arme, eine rechts und eine links.
Einen Vater gab es nicht. Auch in ihren Träumen wollte Nevada das Risiko nicht eingehen. Sie wusste nicht, wie sich ein guter Vater verhielt. Aber eine Mutter! Das konnte sie sich vorstellen. Eine Mutter war weich und lieb. Eine Mutter würde ihr genau das sagen, jeden Tag: «Du bist schön, du bist stark, du kannst das. Und ich liebe dich.»
«Lass es ruhig laufen», sagte Nevada zu ihrer Schwester, die folgsam wieder auf den Knopf drückte. Und eine ruhige Stimme, die nicht die ihrer Mutter war, füllte die Fahrerkabine. Sierra und Nevada saßen still nebeneinander, bis sich die Autoschlange wieder in Bewegung setzte, eine stolpernde Bewegung, die irgendwo kilometerweit von ihnen entfernt ruckartig ansetzte und sich dann langsam, Wagen für Wagen fortsetzte, bis auch sie sich zwei Meter vorschieben konnten, und dann noch einen.
Erst als sie in ihre Straße einbogen, schaltete Sierra die CD wieder aus. Nevada blickte aus dem Fenster. Die Bäume waren kleiner, als sie sie in Erinnerung hatte, die Straße schmaler.
«Es ist nicht mehr so wie früher», sagte Sierra. «Wirst schon sehen.» Sie stellte den Lieferwagen direkt vor das Haus, das jetzt ihr gehörte, ihr und Martha. Die Fenster im Erdgeschoss waren mit dem Logo von Sierra Suave beklebt, einer seltsamen Mischung aus Meereswelle und Sägeblatt, die Nevada eher furchterregend als ermutigend erschien. Durch das Milchglas der Eingangstür konnte Nevada die Umrisse ihrer Mutter erkennen.
Martha zögerte einen Moment lang hinter der Tür, bevor sie sie heftig aufstieß und mit grimmiger Entschlossenheit auf sie zumarschierte. «So!», rief sie immer wieder. «So jetzt! So!» Sie riss die Beifahrertür auf. Nevada rutschte ganz an den Rand ihres Sitzes und schaute auf den Asphalt des Parkplatzes. Er schien unerreichbar. Ihre Beine zuckten, als erinnerten sie sich, wie es war, mühelos aus noch viel größeren Höhen zu springen, weich zu landen, in den Knien nachzufedern. Martha packte sie unter den Armen und hob sie aus dem Wagen. Sie hob sie hoch und machte eine Vierteldrehung, Nevada flog. Wie ein Kind. Wie eine Ballerina im Pas de deux. Dann setzte Martha sie ab, und Nevadas Knie knickten ein.
Sierra hatte nicht gelogen. Es war alles anders. Selbst der Geruch im Treppenhaus.
«Wir werden einen Lift einbauen», sagte Martha. «Schau mich nicht so an, das hatten wir ohnehin vor. Aber bis es so weit ist, richtest du dich am besten im Erdgeschoss ein.»
Sie öffnete die Tür zur Gesundheitsoase. Früher hatte sich hier eine chemische Reinigung befunden. Sierra hatte genau beschrieben, welche Maßnahmen sie vorgenommen hatten, um die giftigen Dämpfe aus den Räumen zu vertreiben. Eine chemische Reinigung und zwei Wohnungen. Nevada erinnerte sich an ein älteres Paar mit zwei Dackeln. Jetzt gehörte alles zusammen. Die Räume gingen ineinander über, hell, neutral, vage japanisch eingerichtet. Überall die seltsame Säge, die Nevada noch in ihren Träumen erscheinen würde, sie wusste es. Sie fuhr mit dem Finger über die Zähne, die aussahen, als seien sie in der Sonne geschmolzen. Martha ging voraus, öffnete Türen, zeigte. Nicht nur das Haus war anders, auch ihre Mutter. Nevada wusste nicht gleich, was es war. Sie ist glücklich, dachte sie.
Seltsam.
Zwei Behandlungsräume mit Massagetischen, ein Gruppenraum, eine Art Lounge. Sauna, Dampfbad, Sprudelbad. Solebad,
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