Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
einem Loft ausgebaut hatte. Nevada musste auf jeder dritten Stufe stehen bleiben. «Im Notfall trag ich dich wieder runter», sagte Sierra. «Oder du schläfst halt heute Nacht hier.»
Im Türrahmen hing eine eiserne Kette. Die schweren Glieder waren leicht angerostet. Nevada berührte die Kette mit den Fingerspitzen. Erst da sah sie die schweren eisernen Handschellen, die am Ende der Kette am Boden lagen.
Sierra grinste. «Willst du sie ausprobieren?»
Nevada schreckte zurück.
«Was soll ich sagen – ich spiele gerne!» Sierra führte Nevada in ihre Wohnung, die mit Ledersesseln, schweren Teppichen, Kuhfellen und Tierschädeln eingerichtet war. In der Mitte des großen Raums stand ein Podest, das mit einer Felldecke belegt war. Sierra stieg die eine Stufe zum Podest hinauf und ließ sich dann rückwärts auf die Decke fallen, die glucksend unter ihr nachgab.
«Ein Wasserbett?», fragte Nevada. «Gibt es das wirklich?»
«Probier’s mal aus!» Sierra streckte die Hand aus und zog Nevada zu sich hinunter. Nevada ließ sich fallen, und im Fallen dachte sie an Wolf. Ihre ganz persönliche, große Verwechslung. Avidya. Nichts war, was es schien. Das Wasserbett gab unter ihr nach, das weiche Fell schmiegte sich um sie, sie hatte keine Schmerzen, nirgends.
«Nicht schlecht, was?» Sierra grinste.
«Ich will gar nicht mehr aufstehen, Sierra! Mir tut nichts weh. So eins will ich auch haben!»
«Kein Problem. Ich hab eine Quelle.» Sierra begann auf und ab zu wippen. Nevada verzog das Gesicht.
«Nicht», sagte sie. «Die Ameisen!»
«Sorry. Ich hab nicht dran gedacht.»
Eine Weile lagen sie nebeneinander auf der sanft schaukelnden Matratze. Über ihnen hing ein Spiegel, der sie durch die Dachschräge verzerrt wiedergab.
«Warum hast du einen Spiegel über dem Bett hängen?», fragte Nevada. «Schaust du dir selber beim Schlafen zu?»
«Bist du so naiv, oder tust du nur so? Oder haben Yoginis etwa keinen Sex?»
Nevada schwieg.
«Wie bitte?», fragte Sierra. «Ich hab doch bloß einen Witz gemacht. Sag jetzt nicht, Nevada, sag bloß nicht …»
«Nein, ich habe keinen Sex. Seit fünf Jahren nicht mehr.»
«Spinnst du? Warum denn nicht? Es gibt doch gar keinen Grund dafür», sagte Sierra. «Ich habe recherchiert, glaub mir, ich weiß mehr über deine Krankheit, als ich je wissen wollte! Sex ist kein Problem.»
«Für mich schon», sagte Nevada.
Sierra schwieg eine Weile. «Ich verstehe», sagte sie dann. «Also dann, wenn wir schon bei den Geständnissen sind …»
«Nein, jetzt sage ich, was ich sagen wollte.» Nevada richtete sich auf. «Hör mir zu, Sierra, es ist wichtig. Ich habe Beni gefunden. Ich hab ihn in seinem Zimmer gefunden, am Tag, bevor ich abgereist bin, und ich habe nichts gesagt. Ich hätte nie gedacht, dass du deswegen aus Paris zurückkommen musstest. Es tut mir leid, dass ich dein Leben zerstört habe. Ich konnte einfach nicht anders.»
«Jetzt hör aber auf! Wenn schon, dann muss es mir leidtun. Ich bin schließlich deine große Schwester. Ich hätte dich beschützen sollen, das ist es doch, was große Schwestern tun. Ich hab schon gesehen, was abging. Ich verstand es nur nicht. Ich war die ganze Zeit sauer auf dich, weil du die Kleine, Süße warst, weil du beachtet wurdest, weil ich dachte, er hat dich lieber als mich.»
Nevada schwieg. Wenn Sierra es gesehen hatte, dann war es wirklich passiert. Dann hatte sie es sich nicht eingebildet. Nevada wusste nicht, ob sie erleichtert darüber war oder enttäuscht davon. Sie lag auf dem Rücken und atmete weiter. Das Bett schaukelte sanft. Schließlich griff Sierra nach unten, zog eine Schublade aus dem Podest und aus der Schublade einen fertiggerollten Joint. Sie zündete ihn an und zog ein paarmal daran. Dann legte sie sich wieder neben Nevada auf den Rücken. Nevada streckte die Hand aus.
«Ach, keinen Sex haben, aber Gras rauchen, das geht dann wieder?»
«Ich dachte, du hast meine Krankheit recherchiert? Also, gib schon her.» Nevada nahm einen Zug und noch einen, dann gab sie den Joint zurück. Sie schaute an die Decke und sah sie beide nebeneinander im Spiegel liegen, schief und verzerrt. Sie kicherte unvermutet und wurde gleich wieder ernst. «Denkst du manchmal an Nevada?»
Sierra wusste sofort, wen sie meinte. «Immer», sagte sie.
«Was meinst du, wo ist sie?»
Sierra sah sie erstaunt an. Mit der Hand, die den Joint hielt, tippte sie an ihr Brustbein. «Genau hier», sagte sie.
Leise glutschte das Wasser unter ihnen.
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