Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
trotzdem mitgeflogen, allerdings, so vermutete Eva, nicht aus beruflichen Gründen. Marie war allein in der alten Wohnung gewesen, als Stefanie eine Woche vor dem Umzug zu ihr zog.
«Du kannst gleich mit anpacken», hatte Marie gesagt. Beim Aufräumen, Aussortieren und Einpacken von Maries erstaunlich vielen Sachen kamen sie sich wieder etwas näher. Stefanie lachte über Maries Modesünden aus Studentenzeiten und rettete die Fotoalben vor dem Abfallsack. Sie hatten ihre Arbeit unterbrochen, nebeneinander auf dem Fußboden gesessen, und Stefanie hatte sich die weitverzweigte Verwandtschaft genau erklären lassen.
«Du kennst jeden, der mit dir verwandt ist», sagte sie. Als sei das etwas Besonderes. Für Stefanie war es das. «Krass. Niemand ist geschieden, niemand ist weggezogen! Die wohnen am selben Ort!»
«Stimmt. Hab ich mir gar nie überlegt.» Marie packte die Fotoalben in Seidenpapier ein.
«Nur du nicht», sagte Stefanie.
Marie öffnete die Glastür und trat auf die Terrasse. Dort lagen sorgfältig zusammengefaltet die alten Wolldecken, die sie von ihrer Mutter geliehen hatte, um Tischplatten und Bilderrahmen zu schützen. Marie stellte sich vor, wie sie die Terrasse bepflanzen würde. Tomaten, dachte sie, Glyzinien. Sie wusste, dass es illusorisch war. «Einen Garten muss man sich verdienen», sagte Maries Mutter immer. «Ein Zuhause auch.» Elisabeth Leibundguts Garten war einer der schönsten im ganzen Dorf. Ihm opferte sie jede Sonnenstunde, jeden schönen Abend, jedes Wochenende. An lauen Sommerabenden nahm Maries Mutter manchmal einen Liegestuhl aus dem Abstellraum, faltete ihn umständlich auseinander und stellte ihn in der Mitte des Gartens auf, obwohl da keine Sonne mehr hinschien. Dann legte sie sich vollständig angezogen darauf, die Füße übereinandergelegt, die Hände auf dem Bauch. «Den Garten genießen», nannte sie es. Zwanzig Minuten hielt sie das aus, eine halbe Stunde, nicht länger. So lange Marie sich erinnern konnte, waren sie im Sommer nie in die Ferien gefahren. Und auch im Herbst musste man die Mutter zwingen, nach Italien oder Südfrankreich, einmal auch nach Kreta mitzukommen. Was, wenn ein früher Frost die Rosen tötete, bevor sie sie fachgerecht zurückgeschnitten und zugedeckt hatte? Was, wenn der Hund vom nahen Bauernhof sich wieder einmal von seiner Kette losriss und durch die Vorgärten grub? Marie dachte an etwas, das Nevada einmal gesagt hatte: «Wir suchen nach Erlösung wie wildwütige Hunde, die in der Erde scharren. Wir merken gar nicht, dass wir so die zarten Samen und Keime zerstören, die da schon vergraben liegen und die nichts anderes gebraucht hätten als ein bisschen Wasser, ein bisschen Vertrauen, Geduld.» Marie hatte damals, in jener Yogastunde, an ihre Mutter gedacht und an deren Furcht vor dem rasenden Hund des Bauern. Elisabeth Leibundgut war mit dem Leben ihrer Tochter nicht einverstanden. Sie hätte sie lieber nicht als Ärztin, sondern als Frau eines Arztes gesehen. So hätte sie beides haben können, das Ansehen, das der Beruf mit sich brachte, und die Befriedigung eines schönen Heims. Eines Gartens. Jahrelang hatte sie Maries Ehelosigkeit besorgt beobachtet.
«Ja, wenn du dich so in deinen Büchern vergräbst …», jammerte sie. «Du hättest doch gar keine Zeit für einen Mann! Männer brauchen Zuwendung. Wie Pflanzen!»
Dann lernte Marie Gion kennen. Doch ihre Mutter war immer noch nicht zufrieden: «Kind, ein verheirateter Mann! Was hast du dir bloß dabei gedacht! Und ein Schauspieler auch noch! Was kann der dir schon bieten? Kann er überhaupt für dich sorgen, wenn er noch Alimente zahlen muss?» Dass Marie ihren Lebensunterhalt sehr gut selber verdiente, ließ sie nicht gelten: «Warte nur, bis das erste Kind da ist! Du willst doch Kinder haben?» Und als Gion berühmt wurde: «Woher willst du wissen, dass er es ernst mit dir meint? So einer könnte doch jede haben!» Und als sie sich getrennt hatten, sprach Maries Mutter ihr Mantra aus: «Ich hab es ja gleich gesagt!»
Es war gut gemeint, Marie wusste das. Es war Elisabeths Art, Liebe und Sorge auszudrücken. Aber es war auch ein Gefängnis. Warum war Marie früher nie aufgefallen, wie ängstlich ihre Eltern waren, wie sehr sie dazu neigten, das Schlimmste zu befürchten und immer darauf vorbereitet zu sein? War das vielleicht nur die Schweizer Mentalität? Assistenzarzt Maurer hatte es ihr so erklärt: «Egal, was man in diesem Land versucht, es gibt nur zwei mögliche Reaktionen
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