Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
kannst nicht ewig in diesem luftleeren Raum schweben. Irgendwann willst du wieder etwas, und dann kannst du es auch wieder verlieren. Nächste Woche haben wir ein Eignungsgespräch, dann werden wir Kinder kennenlernen, eins von ihnen wird uns zugesprochen werden, es wird mit uns leben, wir werden es lieben – und dann ist unsere größte Angst, dass ihm etwas passiert. Und schon sind wir nicht mehr frei.»
«Freiheit ist überbewertet», sagte Ted. Seine Zunge war schwer. Seine Gedanken gehorchten ihm nicht mehr. Er war nicht frei, er hatte auch seine Tochter nicht verloren, sie lebte nur sehr weit weg. Seine größte Angst, ihr nicht das Zuhause bieten zu können, das er sich immer gewünscht hatte, war längst wahr geworden. Trotzdem war alles noch möglich.
Er schaute noch einmal auf die Uhr, es war bereits nach vier. Er zog sein Handy aus der Hosentasche. «Du, sorry , ich muss jetzt gleich Emma anrufen!»
«Kein Problem. Ich wollte ja nur sehen, ob du noch lebst. Ich geh jetzt nach Hause. Das ganze Gerede über meine Frau …» Tobias stand auf und hielt sich an der Tischkante fest. «Ich will meine Frau sehen!», rief er. «Jetzt sofort!»
Ted schluckte. Zu seinem Entsetzen schossen ihm die Tränen in die Augen. Doch Tobias merkte es nicht. Er ging zur Tür, drehte sich dort noch einmal um und sagte:
«Übrigens, Janis Joplin hat auch ganz was anderes gesungen: Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz. Denk mal darüber nach, Bruder!»
Marie
«Das ist der letzte», sagte Maries Vater und stellte den Karton auf den Fußboden. Er atmete schwer. Sein Gesicht war rot. Blutdruck, dachte Marie, müsste man auch wieder mal messen. Sie schaute sich nach ihrer Tasche um. Überall Kisten. Sie hatte nicht gewusst, dass sie so viel – was eigentlich? – besaß. So viel Zeug. Kisten voll, Bananenschachteln, Einkaufstüten, Mülltüten, knallblaue Ikea-Tragetaschen. Irgendwo musste die Arzttasche aus abgeschabtem braunen Leder sein, die Dr. Vogelsang ihr geschenkt hatte, als er seine Praxis aufgab. Damals hatte sie gerade erst mit dem Medizinstudium begonnen. Sie hatte ihre Lehrbücher darin herumgetragen, bevor sie ihr erstes Stethoskop kaufte. Die braune Tasche war Maries Talisman. Schon ihr Anblick beruhigte sie. Alles würde gut werden. Wie damals, als Dr. Vogelsang sie neben ihrem Bett abgestellt und mit kühlen Fingern ihren Bauch abgetastet hatte. Es war die Tasche, nicht ihr Inhalt. Sie musste sie finden. Marie hob eine mit Kleidern gefüllte Mülltüte auf, schob einen Stapel Bücher zur Seite. Sie stieß auf die fast neue Kaffeemaschine und hob sie auf die Küchentheke.
Martin Leibundgut ging zum Kühlschrank und nahm sich ein Bier heraus.
«Papa», sagte Marie.
«Ja, was denn? Zum Zügeln gehört ein Bier, und eigentlich auch etwas zu essen. Hast du nichts zu essen da?»
«Ich wollte später Pizza bestellen.»
«Ein Cervelat wäre jetzt gut.» Aus dem hinteren Teil der Wohnung kam Georg Hiltbrunner, ein Freund ihres Vaters, der beim Umzug geholfen hatte. Auch er hielt eine geöffnete Bierflasche in der Hand. «Oder ist dir das zu altmodisch?»
«Es geht nichts über ein Waldfest», seufzte Martin. «Cervelat, Senf und Brot. Mehr braucht der Mann nicht!»
«Und ein Bier! Um diese Zeit gibt es nichts Besseres!» Georg schaute sehnsüchtig. Marie war versucht, in den Laden zu laufen und Cervelatwürste, Senf und Brot zu besorgen. Dann dachte sie wieder an den Blutdruck ihres Vaters und ließ es bleiben.
«Schöne Wohnung hast du da, Mädchen», sagte Georg. «Aber ziemlich groß für eine Person!»
«Wer sagt denn, dass sie allein bleiben wird!», fuhr Martin seinen Chorbruder an.
«Ich bin doch gar nicht allein», sagte Marie. Sie schaute sich um. Wo war Stefanie?
Stefanie war von der Schule verwiesen worden. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie Hausarrest bis zu den Sommerferien, also bis zum Ende ihrer Schulpflicht. Danach würde man eine neue Schule suchen müssen, die sie aufnahm, eine Lehrstelle, eine Lösung, irgendetwas. Stefanie weigerte sich, darüber nachzudenken, und nach den drei Wochen Hausarrest hatte Eva sie bei Marie abgeliefert: «Übernimm du, ich kann nicht mehr!»
Gion war nach Indien geflogen, obwohl das Schweizer Fernsehen das Projekt gekippt hatte. Sie wollten schließlich eine Vater-Tochter-Geschichte drehen, keinen Dokumentarfilm über einen arbeitslosen Schauspieler auf der Suche nach sich selbst. Eine der zuständigen Redakteurinnen war
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