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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Robina, sie findet den Ort in deinem Körper, wo der Widerstand sitzt. Besser als jeder Doktor.» Martha schaute Nevada von der Seite an. «Ich bin froh, dass du mich angerufen hast», sagte sie. «Warum hast du dich bloß so lange nicht gemeldet?»
    «Und du? Warum hast du dich nicht gemeldet?»
    «Du bist es doch, die jahrelang im Ausland gelebt hat! Es wäre an dir gewesen. Der, der zurückkommt, meldet sich bei dem, der dageblieben ist, so ist es nun einmal.»
    Und du bist meine Mutter. So ist es nun einmal, dachte Nevada.
    Es war immer noch kühl für die Jahreszeit. Nevada trug eine Strickjacke, die ihr zu groß war. Sie hatte die beiden Ärmel zum Muff geschlossen. Es schien ihr, als könne sie damit den Schmerz in den Unterarmen lindern. Auf den Raum zwischen ihrer Haut und dem Wollstoff der Jacke verkleinern.
    Martha schaltete das Autoradio aus. Eine Weile schwiegen sie. Was Robina mit ihr vorhatte, wusste Nevada noch nicht. Doch ihre Mutter schien es zu wissen, und das genügte ihr. Nevada ließ sich gern bemuttern. Sie wusste nicht, wann sie das zum letzten Mal erlebt hatte. War sie je hingefallen, hatte sich das Knie blutig geschlagen, sich weinend in Mutters Arme geflüchtet? War sie getröstet, verarztet worden? Bestimmt. Sie konnte sich nur nicht daran erinnern. Die Erinnerung war eine ebenso unzuverlässige Freundin wie alle anderen vrttis oder Bewegungen des Geistes: Wahrnehmung, falsche Wahrnehmung, Vorstellung und Tiefschlaf. Anubuthavisayasampramosah smrtih – Erinnerung ist das Festhalten einer bewussten Erfahrung in unserem Geist. Was natürlich nicht bedeutet, dass sich die Erinnerung mit der Erfahrung deckt.
    Martha lenkte den Wagen vor ein kleines Haus, das aussah, wie ein Kind ein Haus zeichnen würde, ein spitzer Giebel, ein mit roten Ziegeln bedecktes Dach, eine halbrunde Treppe, die zur Eingangstür führte. Sie bildete den Mund in dem Gesicht des Hauses, und die zwei Fenster im ersten Stock die Augen. Die geschlossenen Augen, denn die Fensterläden waren zu.
    «Bist du bereit?», fragte Martha.
    Nevada nickte.
    «Gut.» Martha stieg aus, ging um den kleinen Wagen herum und half Nevada auszusteigen. Jetzt war sie sich sicher: Diese Art von Fürsorge hatte sie noch nie erlebt. Nevada folgte ihrer Mutter die Treppenstufen hinauf. Sie fröstelte in ihrer zu großen Strickjacke.
    Die Türglocke klang wie ein Gong, verhallte wie in einem viel größeren und ganz leeren Haus. Ohne dass sie Schritte gehört hätten, ging die Tür auf. Eine ältere Frau stand vor ihnen, sie trug ausgebeulte Manchesterhosen und einen wildgemusterten Faserpelzpullover. In ihren grauen Haaren steckten zwei Bleistifte. Nevada erkannte sofort die gebückte Haltung, die eingesunkenen Schultern, die bestimmt Rückenschmerzen verursachten und ein tiefes Durchatmen unmöglich machten. Sie wollte die Hand zwischen diese Schulterblätter legen, aber ihre Hand weigerte sich, den Ärmel ihrer Jacke zu verlassen. Ihre Mutter hingegen umarmte die unscheinbare Frau und hielt sich eine ganze Weile an ihren eingesunkenen Schultern fest.
    «Kommt herein», sagte Robina. «Kalt ist es heute, nicht? Man würde nicht glauben, dass bald Sommer ist, nicht? Zieht eure Jacken aus, hier.»
    Nevada schüttelte den Kopf. «Ich behalte meine lieber an.»
    «Wie du willst. Ich schau nur schnell nach meiner Konfitüre. Setzt euch schon mal ins Behandlungszimmer. Martha, du kennst den Weg.»
    Irgendwo aus dem hinteren Teil des kleinen Hauses roch es nach verbranntem Zucker. Martha legte Nevada ganz leicht eine Hand auf den Rücken und schob sie nach rechts, den düsteren Flur entlang, an dessen Ende eine Tür einen Spaltbreit offenstand. Martha ging voran. In dem großen, holzgetäferten Zimmer standen ein abgeschabtes, samtbezogenes Sofa und zwei riesige Sessel. Zwei Elefanten aus braunem Leder. Unter dem kleinen Fenster stand eine Holzkiste, die mit einem indischen Schal bedeckt war. Eine Kerze und eine Engelsstatue standen darauf.
    «Nimm du einen Sessel», sagte Martha. «Den linken.»
    Sie selber setzte sich auf das Sofa, ganz vorn auf die Kante, sie stützte ihre Arme auf die Knie und schaute sich neugierig um. «Der Engel ist neu», sagte sie. «Es dauert sicher nicht lange. Warm ist es hier drin. Bist du sicher, dass du deine Jacke anbehalten willst?»
    Nevada nickte.
    «Na gut, vielleicht musst du sie dann später ausziehen, wenn sie mit dir arbeitet. Ich weiß es nicht, sie macht immer etwas anderes. Keine zwei Sitzungen laufen gleich

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