Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
leben. Sie wollten Naturkosmetik auf dem Internet vertreiben, er würde das Technische übernehmen, sie das Künstlerische, sie hatten sich schön eingerichtet auf dem Land, weit weg von allem. Fünf Kilometer von der Landstraße entfernt, über eine Schotterstraße nur schwer zu erreichen, die entscheidenden Minuten, die auf dem Weg ins Unispital verlorengingen, kosteten ihr am Ende das Leben. Hätte ich nicht jahrelang gehetzt gegen alles, was ihr wichtig war, hätte sie nicht so vehement auf der Hausgeburt bestanden. Markus, ihr Mann, erzählte später, die Hebamme habe sie über eine Stunde lang zu überreden versucht, sie hatte die Ambulanz erst gerufen, als Maja schon das Bewusstsein verloren hatte, der Blutverlust war zu groß, wissen Sie.
Markus hat mir die Schuld gegeben. Meine Frau hat mir die Schuld gegeben. Ich bin Arzt, verstehen Sie. Der Tod ist mein persönlicher Feind. Das Kind darf nicht vor dem Vater sterben, der Enkel vor dem Großvater, das alles ist schlimm genug, aber als Arzt, wissen Sie, als Arzt …
Jeden Tag entreiße ich Menschen dem Tod, ich operiere Tumore, an die sich sonst niemand traut, ich berühre das Sprachzentrum eines Menschen mit meinem Skalpell, ich spiele Gott, und dann stirbt meine Tochter bei der Geburt wie vor hundert Jahren eine ungebildete Bäuerin. Und mein Enkel. Wir hatten nur das eine Kind. Nur die eine Möglichkeit.
Meine Ehe ist daran zerbrochen. Markus hat sich nie mehr bei mir gemeldet – warum sollte er auch. Ich bin allein, ich habe keine Familie mehr, es gibt nur noch mich.»
«Und mich», sagte Nevada schließlich.
Professor Kaiser schaute auf. «Und Sie», nickte er.
Er öffnete ihre Patientenakte, als müsse er nachschauen, was darin stand. Als wüsste er es nicht.
«Nun, Frau Marthaler.» Er räusperte sich. «Sie haben Multiple Sklerose. Schon seit einer ganzen Weile, so wie es aussieht. Es wundert mich, dass Ihre Beschwerden nicht stärker sind.» Er zog Bilder aus der Mappe, befestigte sie an der Leuchtwand und zeigte ihr die weißen Punkte in ihrem Gehirn.
Nevada sagte nichts. War sie enttäuscht? Kein schneller – wenn auch grausamer – Tod? Medikamente, die sie dick machen würden? Einatmen. Ausatmen. Sitzen bleiben.
«Was heißt das?», fragte sie.
«Sie haben eine unheilbare, fortschreitende Nervenkrankheit. Wie sie genau verlaufen wird, kann ich nicht voraussagen. Ich werde Ihnen aber sofort einen potenten Cocktail verschreiben.»
«Ich trinke keinen Alkohol.» Nevada sah ein überdimensioniertes Martiniglas vor sich, in dem eine nackte Frau schwamm.
Professor Kaiser lächelte schief. «Sie sind bei mir in guten Händen», sagte er. «Ich werde mit Ihnen zusammen den Kampf aufnehmen. Wir werden alles tun, um die Bestie in Schach zu halten. Das Erste, was Sie mir versprechen müssen: Recherchieren Sie Ihre Diagnose nicht im Internet!» Er begegnete ihrem Blick. «Diese Warnung kommt wohl zu spät?»
Nevada nickte.
«Gut, dann – sagen Sie es mir. Was haben Sie erfahren? Was macht Ihnen am meisten Sorgen?»
Darüber musste Nevada nicht nachdenken. «Die Medikamente», rutschte es ihr heraus. «Ich will auf keinen Fall dick werden!»
Wie lächerlich. Ihre Mutter wäre stolz auf sie.
Poppy
Diese Erleichterung, als es an der Tür klingelte! Wolf hatte sich nicht gemeldet. Nicht auf ihre Nachrichten reagiert. Hundertmal hintereinander hatte sie seine Nummer gewählt, jede seiner Nummern, ungeniert konnte sie ihn zu Hause anrufen. Kim würde nicht mehr abnehmen und misstrauisch «Hello?» sagen.
Wolf war frei. Wolf war nicht mehr verheiratet. Warum kam er nicht zu ihr? Warum meldete er sich nicht?
«Verdächtig», hatte Audrey gesagt. «Der Ehemann ist immer verdächtig.» Poppy hatte genug Krimiserien im Fernsehen verfolgt, um diesen Grundsatz zu kennen. Und zu wissen, dass er meist zutraf. Umso mehr, wenn er, der Ehemann, eine Geliebte hatte. Wusste jemand von ihr?
Poppy hatte ihren Blog nicht weitergeführt. In ihrem Kopf turnten keine Affen mehr. Nur verzweifelte Fledermäuse schrien in der Dunkelheit. Sie schrien nach Wolf. Alle ihre Gedanken drehten sich um ihn. Wo war er? Was dachte er? Wie ging es ihm?
Sie kannte ihn gut genug, um zu ahnen, dass er sich für den Tod seiner Frau verantwortlich fühlte. Er hatte sie heimatlos gemacht, unglücklich, er hatte sie betrogen. Er hatte sich vielleicht gewünscht, sie würde verschwinden. Nicht so, aber doch. Poppy fürchtete, er würde die Schuld an Kims Tod auf sich
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