Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Nevada! Jeder Idiot weiß, dass Essstörungen auf eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung zurückzuführen sind! Jetzt denkt der Arzt natürlich, ich sei eine schlechte Mutter. Vielen Dank auch! Das hat mir gerade noch gefehlt! Als ob ich nicht schon genug am Hals hätte mit deinem Vater!»
Nevada wollte nicht darüber nachdenken, warum ihre Mutter ihr plötzlich so bedingungslos zur Seite stand. Sie wollte sich in ihre fähigen, sehnigen Arme zurücksinken lassen. Doch sie konnte nicht. Warum jetzt, warum so, warum nicht gleich? Wie ein Mühlrad drehten die Fragen in ihrem Kopf und zermalmten die Erleichterung, die sie trotz allem fühlte: Sie war nicht allein. Niemand aus der Yogagemeinde hätte sie zu einem Termin ins Krankenhaus begleitet. Niemand würde verstehen, warum sie dort hinging. Sie war eine Abtrünnige.
Nevada sah den Arzt fest an. Jetzt wollte sie es wissen. Andererseits wollte sie es auch nicht wissen. Sie hatte in den letzten Tagen viele Stunden im Internet verbracht und die verschiedenen möglichen Diagnosen gegoogelt. ALS war eine Möglichkeit. Amyotrophe Lateralsklerose. Das Zittern, die Lähmungserscheinungen, ihr Sturz wiesen darauf hin. Die Lähmung würde unaufhaltsam fortschreiten, bis sie erstickte. Das würde nicht allzu lange dauern. Vorausgesetzt, sie verweigerte die künstliche Beatmung. Im Verlauf ihrer Recherchen war sie auf die absurde Geschichte eines Neurologen gestoßen, der am Universitätskrankenhaus von San Francisco eine der bedeutendsten ALS-Kliniken der Welt geleitet hatte, nur um die Krankheit irgendwann selber zu bekommen. Sofort waren Gerüchte laut geworden, ALS sei vielleicht doch ansteckend. Aber es war nur eine Frage der Statistik. Der Professor war einigermaßen guten Mutes, er starb innert neun Monaten. Neun Monate, das ließ sich aushalten. In einem Interview scherzte der Professor, der mit einer Atemmaske auf einem Trimmrad saß, es sei nicht möglich gewesen, das Haus seiner rapide fortschreitenden Lähmung anzupassen – bis die Rollstuhlrampe verlegt worden war, war er schon ans Bett gefesselt.
Multiple Sklerose schien Nevada einfach eine langsamere, qualvollere Variante von ALS, die am Ende auf dasselbe hinauslief: Lähmung der Atemmuskeln, Tod durch Ersticken. Dieses Ende war unausweichlich, die Krankheit konnte sich zehn oder zwanzig Jahre hinziehen, man konnte aber relativ gut damit leben. Schubweise wurde man von heftigen Schmerzen und Krämpfen geplagt, und gelegentlich fiel man auf die Schnauze. Mit MS konnte man sogar Yoga machen, es gab jedenfalls, auch das hatte Nevada gegoogelt, diverse Übungsprogramme dafür.
Gab es auch Yogalehrer mit MS? Vermutlich. Eine Schauspielerin, die jahrelang keine Engagements bekommen hatte, weil man sie wegen ihrer fahrigen Bewegungen für eine Trinkerin hielt, gestand endlich öffentlich, sie habe MS.
Und es seien die Medikamente, die sie aufgedunsen wirken ließen, nicht übertriebener Alkoholkonsum.
Medikamente? Aufgedunsen? Würde sie tatsächlich lieber früher ersticken, als dick zu werden? Für Martha wäre das wohl keine Frage. Nevada hatte sich noch nicht entschieden.
«Ich habe das Gegenteil von dem erreicht, was ich wollte», sagte Professor Kaiser, und Nevada fragte sich, was er damit meinte. Er sprach wieder von seiner Tochter. «Ich habe mich systematisch über alles lustig gemacht, was ihr wichtig war. Ayurvedische Ernährung, homöopathische Medizin, traditionelle chinesische Medizin, Yoga … es ist kein Zufall, dass Sie jetzt meine Patientin sind, Frau Marthaler, an Ihnen kann ich wiedergutmachen, was ich angerichtet habe. Wenn ich an das Jenseits glauben würde, würde ich fast behaupten, meine Tochter habe sie geschickt. Aber meine Tochter ist – meine Tochter ist tot.»
Es klang, als sei ihm das eben erst bewusst geworden. Er legte den Kopf in die Hände, eine Geste, die Nevada schon kannte. Sie wusste nicht genau, was er von ihr erwartete, ob überhaupt etwas, und entschloss sich, nichts zu tun. Zu warten.
Sie saß auf dem klapprigen Metallstuhl, über dem ihre beiden möglichen Diagnosen in der Luft hingen, und wartete. Sitzen bleiben, weiteratmen. Nicht wissen, welche von zwei unheilbaren Krankheiten man hatte. Ein Wunder nicht ganz ausschließen. Solange der Arzt nichts sagt, ist alles möglich. Selbst, dass es nichts ist. Weiteratmen. Sitzen bleiben.
«Sie hatte diesen Freund, verstehen Sie, den Vater des Kindes, sie wollten nicht heiraten, sie wollten nach ihren eigenen Regeln
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