Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
nehmen.
Hatte man ihn bereits verhaftet? Meldete er sich deshalb nicht bei ihr? Sie durchforstete sämtliche Nachrichtenarchive, die ihr zur Verfügung standen. Die Polizei bittet um Hinweise , stand am Ende jedes Artikels. Mehrmals hatte sie die Nummer gewählt, die unter dieser Aufforderung stand, nur um immer wieder aufzulegen. Was sollte sie sagen? Er war es nicht, ich kenne ihn? Er kann wirklich keiner Fliege etwas zuleide tun, und das im wörtlichen Sinn, ich war selber dabei, als er zehn Minuten lang nackt am Fenster stand und versuchte, ein verirrtes Tier nach draußen zu scheuchen.
«Nackt? An Ihrem Fenster?»
Sie könnte sich als Journalistin ausgeben, dachte Poppy. Und nachfragen, ob Wolf verhaftet worden war. Sie traute sich nicht. Sie traute ihrer Stimme nicht. Sie würde sie verraten.
In der Kantine setzte sich Poppy zu Hanspeter, der beinahe solange bei den Lokalnachrichten war wie sie, mit dem Unterschied, dass er immer als Redakteur gearbeitet hatte. Sie ließ ihn von ihrem Wienerschnitzel probieren (Hanspeter war auf Diät) und hörte geduldig zu, wie er von seinen neuen selbstaufgestellten Mountainbikerekorden berichtete, bevor sie, beiläufig, wie sie dachte, nachfragte: «Du, dieser Fall mit der toten Amerikanerin, gibt es da eigentlich schon was Neues? Hat man jemanden verhaftet?»
«Warum, weißt du was?» Hanspeter schob seinen Salatteller beiseite und beugte sich vor.
«Ich, nein. Wieso?»
«Audrey hat gesagt, du seist ganz bleich geworden, als du den Artikel gelesen hast, du habest das Archiv sozusagen fluchtartig verlassen!»
«Hab ich doch gar nicht!»
«Ich hab ihr auch nicht geglaubt», sagte Hanspeter. «Audrey spielt sich gern auf. Aber hier sitzt du und teilst dein Schnitzel mit mir, als ob wir gute Freunde wären … und bei der ersten Pause im Gespräch fragst du nach dem Fall. Also. Spuck’s aus.»
«Es gibt nichts auszuspucken. Und vielen Dank, jetzt hast du mir den Appetit verdorben!» Poppy schob ihr Schnitzel zu Hanspeter hinüber, stand auf und ging zurück in ihr Kellerloch, zu ihrem Computer, ihren Recherchen, die nichts brachten.
Wenn man ihn verhaftet hätte, wüsste man das, dachte sie. Bestimmt.
Sie hatte sich gerade zum Gehen bereit gemacht, die Yogahose schon unter ihr Wickelkleid gezogen, die Matte zusammengerollt, als es klingelte. Endlich! Sie riss die Tür auf. Nicht Wolf.
«Sind Sie Frau Annamarie Schneider?»
Annamarie? Poppy musste einen Moment überlegen. Dann nickte sie. Das war ihr Name.
«Burckhardt, Kantonspolizei. Können wir reinkommen?»
Natürlich. Zwei junge Männer, hatte Poppy erst gedacht, doch einer der beiden stellte sich als Frau heraus. Burschikos, kurzgeschnittenes Haar, breitbeinig. «Walder», sagte sie kurz. Sie ging an Poppy vorbei und blieb vor der Zettelwand stehen.
«Schreiben Sie ein Drehbuch?», fragte sie.
Poppy sah sie fragend an.
Walder deutete mit dem Kinn auf die gelben, grünen und rosaroten Post-it-Zettel an der Wand. «Storyline», sagte Walder, als erkläre das etwas. Während Poppy noch diesem Wort nachhing – Storyline? –, war Burckhardt schon zu ihnen getreten.
«Licht aus», las er vor. «Fenster zu. Schlüssel. Telefon. Portemonnaie.» Er drehte sich zu Walder um. «Seltsame Storyline», sagte er.
«Mein Leben», sagte Poppy. «Ich vergesse sonst so viel. Das Alter …» Sie winkte mit der Hand ab, als sei sie nicht schon immer so gewesen, schon als Kind.
Wenn dein Kopf nicht angewachsen wäre … Der Kopf war nicht das Problem. Sondern das, was darin war. Doch seit ein paar Jahren konnte sie sich mit ihrem Alter herausreden.
«Ja, ja, das kenn ich. Das Alter …» Alle wurden vergesslich. Alle mussten nachfragen, die einen hörten schlecht, die anderen hörten nicht zu.
Poppy ließ ihre Tasche fallen, ihre Yogamatte, der blaue Bändel löste sich, die Matte rollte sich auf dem Fußboden auf wie eine Zunge.
«Frau Schneider, wir müssen mit Ihnen reden!» Walder ging ins Wohnzimmer, setzte sich ungefragt auf den einzigen freien Platz auf dem Sofa. Sie saß breitbeinig, stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab. Ihr Kollege blieb stehen und schaute sich um. Auf dem Tisch stand noch das Frühstücksgeschirr, in der Küche das vom Mittagessen, auf dem Sofa lagen Zeitungen, Kleider, ein Mantel und ein Blumenstrauß, noch in grünes Seidenpapier gewickelt. Poppy schob den Mantel zur Seite, legte die Zeitungen auf den Tisch, Burckhardt setzte sich auf den freigewordenen Platz. Poppy nahm den
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