Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
gab sie ihn auf. Seit sie vor etwas mehr als fünf Jahren die Wohnung des Salzsteinleckers verlassen hatte, hatte sie keinen Sex mehr gehabt. Mit niemandem. Nicht einmal mit sich selbst. Es wurde, je länger sie verzichtete, desto einfacher. Sie vergaß, dass es Sex überhaupt gab. Täglich legte sie ihre Hände auf schöne Körper, strich schweißnassen Wirbelsäulen entlang, drückte gegen zitternde Oberschenkel, sie spürte Widerstand, sie spürte Schmerz, und sie nahm das alles in sich auf und verwandelte es in weißes Licht.
Alles war einfacher geworden. Ihre ganze Energie floss in ihr Yoga. In ihren Unterricht. In ihre Schüler. Das war ihre Bestimmung. Das war ihr Dharma . Das war ihr Plan.
«Willst du Gott zum Lachen bringen, erzähl ihm von deinen Plänen», hatte Nevadas Mutter immer gesagt. Nur um dann gleich nachzuschicken, dass es Gott nicht gebe. Natürlich nicht.
Doch jetzt gaben ihre Handgelenke nach, ihre Arme schmerzten, ihre Schultern, neuerdings auch ihre Knie, und dann trat ein Mann in ihr Studio, den sie noch nie gesehen hatte und plötzlich war es Nevadas Dharma , sich in seine Arme zu werfen und sich in ihnen aufzulösen.
«Ich weiß nicht», sagte er jetzt. «Ich habe gar nichts dabei. Ich warte lieber unten in der Bar.»
In der Bar bist du nicht sicher, dachte Nevada und meinte eigentlich sich. Doch als ihr Schüler wäre er vor ihrem Begehren geschützt. Und sie als seine Lehrerin ebenso.
Unerwartet kam ihr Nadine zu Hilfe, die auf den Kleiderständer mit den heruntergesetzten Modellen verwies. «Nimm dir eine Hose», sagte sie und kam hinter ihrer Theke hervor, schlängelte sich zwischen Wolf und Nevada hindurch. Sie nahm eine grüne Hose vom Ständer, hielt sie Wolf hin. «Die passt dir bestimmt», sagte sie. «Die Garderoben sind da drüben.»
Dann zwinkerte sie Nevada zu. «Einer mehr!», flüsterte sie. Nadine hatte plötzlich aufgehört, Sebastians Männergruppe zu empfehlen. Sie schickte neue Schüler wieder vermehrt zu Nevada. Nevada vermutete, dass Nadine von Sebastian enttäuscht war, sie hatte sie ein paarmal zusammen weggehen sehen, dann plötzlich hatte Nadine mit verweinten Augen an der Kasse gesessen, und Oona hatte nach der letzten Stunde auf Sebastian gewartet. Nevada beobachtete diesen Reigen wie ein ihr unbekanntes Ritual. Sie empfand Bedauern angesichts der Verzweiflung, die er auslöste.
Nevada schloss die Tür zum kleinen Studio auf. Sie zündete die Kerzen an und legte die Matten aus, vierzehn angemeldete Schüler, ein paar Kurzentschlossene würden noch dazukommen. Es ging wieder aufwärts.
Sie verneigte sich vor dem Bild von Sri Krishnamacharya. Als sie sich auf ihre Matte setzen wollte, knickte ihr rechtes Knie ein. Es tat nicht weh. Es ließ sich nur nicht mehr bewegen. Nevada hob ihr Bein mit beiden Händen in die richtige Position. Nach einer Weile würde es aufwachen. Das würde unangenehm sein. Aber die Ameisen waren von den Medikamenten gezähmt worden. Sie trippelten nur noch vorsichtig unter Nevadas Haut hindurch. Meist verhielten sie sich ruhig. Marie war die Einzige im Studio, die Nevadas Diagnose kannte. Die Krankheit würde schubweise verlaufen. Das war die bessere Variante, hatte Professor Kaiser gesagt. Sie konnte monatelang beschwerdefrei leben. Vielleicht würde sie niemandem etwas sagen müssen. Seit sie nicht mehr jeden zweiten Tag einen Untersuchungstermin hatte, sah sie auch ihre Schwester und ihre Mutter nicht mehr so oft. Sie konnte sie in ihrem Rücken spüren, sie standen im Hintergrund bereit. Nevada versuchte, so zu leben, wie sie immer gelebt hatte. Sie unterrichtete. Sie übte. Sie schlief mehr als zuvor. Die Anzahl Schüler pendelte sich bei zehn, fünfzehn ein, genug, um dem Studio keine Kosten zu verursachen, genug, um knapp davon zu leben. Der nächste Schub würde bestimmt kommen. Das hatte Professor Kaiser gesagt. Nur wann, das wusste er nicht.
Nevada schloss die Augen. Sie atmete ein, sie atmete aus. So , dachte sie, Ham , dachte sie. Ich bin, die ich bin, die ich bin, die ich bin. Sie sah, wie sie ihren Kopf an Wolfs Brust legte. Die Brust öffnete sich und nahm sie auf, verschlang sie ganz. Zwischen ihren Beinen ein Ziehen, das sie nicht mehr erkannte, sie nahm ihre Hände zu Hilfe, um ihre Beine auszustrecken, die Ameisen regten sich. Sie rutschte auf dem Kissen nach vorne und wieder zurück. Der Druck wurde stärker, das Wurzelchakra, dachte Nevada, es war ausgewechselt worden, es regte sich, es pulsierte – Shit!
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