Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
standen. Auf einem lag ein Sudokuheft. Am anderen saß Nevada. Sie saß etwas gekrümmt und hatte die Hände in die Pulloverärmel geschoben. Sie sah aus, als fühlte sie sich nicht wohl hier, und warum sollte sie auch? Zum ersten Mal, seit sie hier war, schämte sich Poppy.
«Nevada», sagte sie unsicher. Sie trat an den Tisch und setzte sich. «Dich hätte ich zuletzt erwartet.»
Die Aufseherin, die sie begleitet hatte, setzte sich an den anderen Tisch, nahm einen Bleistift aus ihrer Hemdtasche und begann, eines der Zahlenrätsel zu lösen.
Nevada lächelte. «Ich habe mit Wolf gesprochen», sagte sie.
«Mit Wolf? Woher kennst du Wolf?»
«Er ist zu mir ins Studio gekommen. Er darf dich natürlich selber nicht besuchen, aber … aber … er wollte, dass du weißt, wie sehr er dich liebt. Er liebt dich wirklich», wiederholte sie.
Poppy hörte etwas in Nevadas Stimme, das sie nicht einordnen konnte. «Und wie geht es dir?», fragte sie.
Nevada schnaubte. «Mir? Großartig. Ich habe eine unheilbare Nervenkrankheit, von der niemand weiß, wie sie verlaufen wird, die mich aber auf jeden Fall irgendwann töten wird. Lakshmi hat mir die meisten meiner Stunden gestrichen, und wenn ich nächsten Monat die Miete nicht bezahlen kann, steh ich auf der Straße. Super.» Sie atmete tief. «Oje, Poppy! Das willst du bestimmt nicht hören. Ich hab wohl laut gedacht. Tut mir leid, ich bin sonst nicht so unsensibel.»
«Ich weiß.»
Nevada hob eine kleine Reisetasche auf den Tisch. «Hier, ich dachte, das kannst du vielleicht brauchen.»
Poppy zog den Reißverschluss auf. Fragend schaute sie Nevada an.
«Ist in Ordnung, es wurde alles am Eingang kontrolliert und abgesegnet.»
Poppy durfte unterdessen persönliche Gegenstände in ihrer Zelle haben. Was sie wirklich wollte, war ein Computer. Sie wollte zurück ins Netz. Doch das Netz spannte sich nicht wirklich weltweit, es endete vor den Gefängnismauern. Dafür hatte man ihr die beiden Taschenbücher zurückgegeben und einen Teil ihres Geldes.
Poppy wühlte in der Tasche und fand drei Yogahosen mit passenden Wickeljacken und Tops, zwei paar Wollsocken, ein paar Turnschuhe mit dünner Sohle, Duschmittel, Körperöl, Shampoo, Pflegespülung. Eine dünne Yogamatte und ein Buch. Poppy nahm es heraus. «Das Yoga der Meditation» , las sie. «Die Yoga Sutren des Patanjali?»
Nevada lächelte. «In meiner Anfängerstunde gehen wir die Sutren systematisch durch, eines nach dem anderen. Ich dachte, du könntest von hier aus mitmachen. Und ich komm dich regelmäßig besuchen, und wir reden darüber. Über die Sutren, meine ich.»
Poppy nickte langsam. Sie drehte das Buch in der Hand. «Danke. Das sind genau die Sachen, die mir hier fehlten. Ich hatte schon eine Liste geschrieben. Woher hast du das gewusst?»
Nevada beugte sich vor. «Ach, ich hab einfach ein paar Sachen aus dem Yogashop mitgenommen. Lakshmi lässt neuerdings die Zehnerkarten nach einem Monat verfallen, und da ich wusste, dass du eben erst eine gelöst hast, hab ich sie für dich in Naturalien umgewandelt.» Sie lachte und zeigte auf das Buch. «Ich weiß nicht, ob ich dieses Verhalten mit den Sutren rechtfertigen kann, aber ich versuche es!»
Poppy stellte die Tasche neben sich auf den Fußboden.
«Keine Angst, ich nehm sie dir nicht wieder weg!» Nevada lachte. «Im Ernst: Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Mein ganzes Leben fällt auseinander, und diese Sutren helfen mir. Sie sind wie ein Geländer, an dem ich mich festhalten kann. Damit ich nicht über Bord gespült, von der Welle mitgerissen werde, damit ich nicht untergehe. Ich dachte, du könntest das hier drinnen auch gebrauchen.»
«Ehrlich gesagt, es ist gar nicht so schlimm. Jeder Tag ist wie der andere. Das ist ganz angenehm. Ich muss nichts überlegen. Nichts entscheiden.»
Nevada nickte. «So etwas wie ein Retreat», sagte sie und unterbrach sich sofort. «Sorry, das war nun wieder total unangebracht. Ich weiß wirklich nicht, was heute mit mir los ist.»
Poppy lachte. «Ist schon okay. Du bist Yogalehrerin, keine Heilige!»
«Nein, das allerdings nicht.» Nevada seufzte. «Poppy, ich weiß doch, dass du Wolfs Frau nicht umgebracht hast. Und Wolf weiß es auch.»
«Und ich», sagte Poppy, «ich weiß es auch.»
«Warum hast du dann gestanden?»
«Weil ich trotzdem schuldig bin. Ich habe so vieles falsch gemacht in meinem Leben, das kann ich gar nicht aufzählen.» Poppy überlegte. Wie viel hatte sie eigentlich preisgegeben? Was
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