Montana 04 - Vipernbrut
Hund fehlte jede Spur. Sie klopften an Türen, fragten bei den Nachbarn nach, gingen die schmalen Wege zwischen den einzelnen Grundstücken ab, schauten in Garagen und Mülltonnen nach, doch alles, was sie fanden, war ein Waschbär auf seiner nächtlichen Tour.
Eine Stunde später gaben sie auf und kehrten in Alvarez’
Reihenhaus zurück. Sie rief im Tierheim an und hinterließ eine Nachricht bei den ortsansässigen Tierärzten.
»Gabe hat ihn«, sagte O’Keefe, als sie aufgelegt hatte. Wieder standen sie im Flur am Fuß der Treppe, der Schnee auf ihren Jacken schmolz und bildete kleine Pfützen auf dem gefliesten Boden. Sie nahm ihren Schal ab und hängte ihn zusammen mit ihrem Mantel an die Garderobe. »Möchtest du einen Kaffee oder sonst was?«, fragte sie, obwohl Dylan O’Keefe der letzte Mensch war, mit dem sie jetzt gemütlich zusammensitzen wollte. Trotzdem: Der Mann hatte über eine Stunde mit ihr zusammen nach ihrem Hund gesucht und war womöglich ihrem ausgerissenen Sohn auf der Spur, ein Junge, den sie sechzehn Jahre lang aus ihren Gedanken zu verbannen versucht hatte.
Zunächst machte er Anstalten, ihre Einladung abzulehnen, dann überlegte er es sich anders und zog seine Handschuhe aus. »Bier?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nur Kaffee da, und das auch nur, weil meine Tante mir einen Weihnachtspräsentkorb mit unter anderem einem Päckchen Kaffee darin geschickt hat. Wein gibt es leider auch nicht. Außerdem habe ich seit heute Morgen kein heißes Wasser mehr, aber ich kann etwas in der Mikrowelle warm machen.«
»Kaffee reicht mir völlig«, sagte er und trat ins Wohnzimmer, dann fragte er: »Du bist Abstinenzlerin?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich habe bloß kein Interesse an Alkohol.«
»Dafür aber an Fitness«, stellte er fest und deutete auf die Hanteln, die sie neben Polizeihandbüchern, medizinischen Abhandlungen und Kriminalromanen in ihrem Regal aufbewahrte.
»Meistens.«
Sie ging in die Küche und blickte auf den leeren Hundekorb, in dem Roscoe so viele Stunden verbracht hatte. Ihr Herz schmerzte, und das nicht nur wegen des Welpen. Nein, sie spürte schmerzlich das Loch in ihrem Herzen, das der Verlust ihres Sohnes gerissen hatte. Eine sechzehn Jahre alte Wunde, die nie ganz verheilt war. Ihre Hände zitterten leicht, als sie zwei Tassen und die abgepackte Festtagsmischung aus dem Schrank nahm. Irgendwie gelang es ihr, das Pulver in die Tassen zu schütten und Wasser in der Mikrowelle zu erhitzen. »Er schmeckt nach Zimt und Spekulatius«, rief sie über die Schulter, während sie das Wasser in die Tassen goss. »Meine Tante findet das weihnachtlich. Ich habe nicht mal Milch oder Kaffeeweißer.« Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück und stellte die Tasse ab.
»Ich trinke meinen Kaffee sowieso schwarz.« Er hatte sich einen Stuhl unter dem Esstisch vor der Schiebetür hervorgezogen, und ihr fiel auf, dass er in den vergangenen Jahren gealtert war, doch die Fältchen um seine Augen und das Silber in seinen kaffeebraunen Haaren machten ihn nur noch attraktiver.
Mein Gott, so durfte sie nicht denken.
»Ich werde einen Bericht schreiben müssen, zusammen mit Pescoli, deshalb solltest du mir mehr über den Verdächtigen erzählen.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich stehe weder ihm noch meiner Cousine sonderlich nahe. Aggie ist ein paar Jahre älter als ich, Dave, ihr Mann, ist Buchhalter. Sie wohnen außerhalb von Helena. Aggie konnte keine eigenen Kinder bekommen, also haben sie welche adoptiert. Der Älteste, Leo, ist ein echter Traumbursche. Sportlich, eine Leuchte in der Schule, spricht bereits davon, nach Stanford gehen zu wollen. Josie, die Jüngste, scheint ebenfalls wohlgeraten zu sein. Nur mit Gabe, dem mittleren Kind, gab es von Anfang an Probleme. Er war ein schwieriges Baby; soweit ich weiß, litt er unter Koliken. Schon in der Grundschule war er ein Außenseiter, ein reizbarer, aggressiver Junge. Auf der Highschool kam er dann mit der falschen Clique zusammen, und alles wies darauf hin, dass er auf dem besten Weg war, ein jugendlicher Straftäter zu werden. Erst letztes Jahr zwangen ihn seine Eltern, den Kontakt zu seinen Freunden abzubrechen, und schickten ihn auf eine Privatschule. Doch der Versuch schlug fehl, er wurde dabei erwischt, wie er zusammen mit seiner Gang versuchte, das Haus eines Richters auszurauben. Zufällig besuchte die Tochter des Richters dieselbe Privatschule wie Gabriel. Alles deutete darauf hin, dass er der Drahtzieher war. Er
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