Montana 04 - Vipernbrut
flüsterte sie mit schwerem Herzen. Der alte Schmerz war plötzlich in voller Schärfe wieder da. Entschlossen, einen kühlen Kopf zu bewahren, zügelte sie ihre wild galoppierenden Gefühle und versuchte, logisch zu denken. Sie würde sich nicht ihrer alten Verzweiflung anheimgeben. Ihr Urteilsvermögen musste ungetrübt bleiben, selbst wenn sie persönlich in diese Sache verstrickt war. Sie schickte eine E-Mail an einen befreundeten Detective vom Department in Helena, fragte nach Gabriel Reeve und erkundigte sich, warum er gesucht wurde.
Jetzt, da sie in diesen Schlamassel hineingezogen worden war, konnte sie nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen, ganz egal, wie weh die Wahrheit täte. Genauso wenig konnte sie O’Keefe aus dem Weg gehen, obwohl sie das am liebsten getan hätte. Es war nicht gut gelaufen zwischen ihnen, und jetzt … Nun, sie wollte nicht mal daran denken.
Du wirst ihn wiedersehen müssen. Ob es dir gefällt oder nicht. Und du wirst herausfinden müssen, ob Gabe tatsächlich dein Sohn ist.
Sie spürte, wie etwas in ihr zerbrach. So lange Zeit hatte sie all ihre Gefühle, das Kind betreffend, verdrängt. Das Kind, unschuldiges Opfer des schrecklichen Vorfalls, der sich ereignet hatte, als sie selbst noch ein Teenager gewesen war. »Gott steh mir bei«, flüsterte sie, auch wenn ihr Glaube an eine höhere Macht damals zerstört worden war. Sie hatte ihre katholische Erziehung geleugnet, hatte sich geweigert, in die Kirche zu gehen, hatte nie einen Priester um Rat ersucht, doch all das würde sich jetzt ändern.
Aufgewühlt schnappte sie sich ihre Jacke, die Dienstmarke, Schlüssel und Handy und beschloss, sich erneut auf die Suche nach ihrem Hund zu machen. Sie würde die Jogging-strecke abgehen, die sie immer nahmen, in der Hoffnung, dass er den vertrauten Weg entlangstromerte, doch als sie durch die Dunkelheit hastete und die Kälte tief in ihrer Seele spürte, wusste sie, dass sie ihn nicht finden würde, genau wie sie wusste, dass sich ihr Leben heute Abend für immer verändert hatte.
Pescoli hasste es, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Nun, zumindest hasste sie es, ihn allein zu schmücken. Im Geiste gab sie sich einen kräftigen Tritt in den Hintern, der gereicht hätte, um sie von einem Bundesstaat in den nächsten zu befördern, weil sie schon wieder nicht zu Santana gefahren war. Stattdessen war sie hier, allein mit Cisco, betrachtete ein paar von den Christbaumanhängern, die sie aufgehoben hatte, und fragte sich, was um alles in der Welt sie dabei geritten hatte.
So wie es aussah, hatten sich Mäuse oder Ratten oder Gott weiß was über ihren Lieblingsbaumschmuck hergemacht; die Schneeflocke, die Bianca in der vierten Klasse gebastelt hatte, war völlig ausgefranst, die bemalte Eierschale mit Jeremys Einschulungsbild darauf fast zu Staub zerfallen. Sie überlegte, Santana anzurufen und ihn zu fragen, ob er zu ihr kommen wolle, doch dann verwarf sie die Idee. Vorerst. Ihr Blick fiel auf eine verblichene Kugel, auf die Teddybären mit Santa-Claus-Mützen gemalt waren. »Babys erstes Weihnachtsfest«, stand darauf, darunter Jeremys Name und sein Geburtsdatum. Bei der Erinnerung daran, wie Joe und sie die Kugel an einen niedrigen Zweig gehängt und ein Foto von ihrem knuffigen, ganz in Rot gekleideten Sohn vor dem Weihnachtsbaum gemacht hatten, schnürte sich ihr die Kehle zu. Jeremy hatte voller Staunen auf die glänzenden, bunten Kugeln und die blinkenden Lichter geschaut.
Wo war nur die Zeit geblieben?
Jetzt konnte sie nicht mehr für ihn tun, als dafür zu sorgen, dass er auf dem College blieb, arbeitete und nicht in Schwierigkeiten geriet. Groß und mittlerweile gar nicht mehr schlaksig, war er das Ebenbild seines Vaters. Sie hatte keine Ahnung, wo er heute Abend steckte, doch sie ließ ihm seinen Freiraum, war er doch inzwischen volljährig, auch wenn er immer noch unter ihrem Dach wohnte.
Was Bianca anbetraf, sie machte diesmal mit ihren Freundinnen Weihnachtseinkäufe und würde nicht vor einer Stunde zu Hause sein.
»Wieder mal nur du und ich, hm?«, sagte sie, an Cisco gewandt.
Ihre Gedanken wanderten erneut zu Jeremys Vater, Joe Strand, ein hochdekorierter Polizist und halbherziger Ehemann. Ganz gleich, welche Wunschvorstellungen Jeremy und sie sich zurechtgelegt hatten, die Wahrheit war, dass sie und Joe, würde er noch leben, vermutlich längst geschieden wären. Ihre Beziehung hatte bereits auf wackeligen Beinen gestanden, bevor eine Kugel seinem Leben ein
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