Montana 04 - Vipernbrut
zählte, die an Fügung, Schicksal oder anderen idealistischen Unsinn glaubte. Gabe musste sich auf den Weg zu seiner leiblichen Mutter gemacht haben, weil er hoffte, dass sie ihn schützen könnte, wo seine Adoptiveltern versagten. Doch wie um alles in der Welt hatte er sie ausfindig machen können?
Vor einer Ampel bremste er ab und betrachtete den roten Schein, der sich auf der vereisten Straße widerspiegelte.
Wer war der mysteriöse Mann, der das Kind gezeugt hatte? Als er sie nach Gabes Vater gefragt hatte, hatte er sich eine kühle Abfuhr eingehandelt. Selena hatte darauf bestanden, dass ihn das nichts anging, was angesichts der Umstände blanker Unsinn war, wie sie beide wussten. Doch er hatte sie heute Abend nicht bedrängen wollen, da er hoffte, dass sie ihm die Wahrheit irgendwann von allein erzählen würde. Wenn nötig, würde er sie eben selbst herausfinden. Er wusste, dass sie in Woodburn, Oregon, aufgewachsen war, wo ihre Familie heute noch lebte. Irgendwer musste die ganze Geschichte kennen, und in Kleinstädten wie Woodburn wurde immer viel getratscht, genau wie in Grizzly Falls. Für gewöhnlich lebten die Familien schon seit Generationen dort, und die Leute hatten ein gutes Gedächtnis, wenn es um Gerüchte ging.
Angeblich wusste der Vater des Jungen nicht einmal, dass er ein Kind gezeugt hatte. Vielleicht hatte sie die Wahrheit gesagt. Vielleicht nicht. Doch wie dem auch sei, dachte er, als die Ampel auf Grün sprang und Scheinwerfer hinter ihm näher kamen, Gabriels leiblichen Vater ausfindig zu machen wäre mit Sicherheit wie der berühmte Stich ins Hornissennest.
Alvarez ignorierte den tiefen Schmerz, der an ihrem Herzen riss.
Sie stand so kurz davor, ihrem Sohn zu begegnen, und nun musste sie fürchten, ihn niemals kennenzulernen.
Sie vermisste ihren ungestümen Welpen.
Und Dylan O’Keefe, der Erinnerungen an ein Glück in ihr wieder wachwerden ließ, das zum Greifen nahe gewesen war und das sie doch durch die Finger hatte rinnen lassen.
Verstimmt darüber, welche Wendung ihre Gedanken nahmen, knipste sie die Lichter aus und dachte daran, dass sie morgen ins Büro gehen müsste, obwohl Samstag war.
Auch heute Nacht kam ihr das Haus leer und einsam vor.
»Na, komm schon«, sagte sie zu ihrer Katze, als sie die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf ging.
O’Keefe sah immer noch gut aus, sexy auf eine lässige, ungehobelte Art und Weise. Er war der Mann, dem sie sich beinahe mit Leib und Seele hingegeben hätte, der Mann, dem sie viel zu nahe gekommen war, wobei sie sich kräftig die Finger verbrannt hatte. Ihr verantwortungsloses Handeln in San Bernardino hätte sie beide um ein Haar das Leben gekostet. Er hatte sichtbare Narben davongetragen, um das zu beweisen; ihr waren bis heute ihre nächtlichen Alpträume geblieben. Ihre Unbesonnenheit hatte ihn den Job gekostet. Schuldgefühle stiegen in ihr auf, als sie ihre Klamotten auszog und in ein übergroßes T-Shirt schlüpfte. Sie hätte es besser wissen müssen. Dumm war sie gewesen und rücksichtslos. Wäre sie nicht mit O’Keefe zusammen gewesen, hätte sie nicht die mitunter so verschwommene Linie überschritten, die Berufs-und Privatleben trennte. Und sie wäre nicht ins Visier eines skrupellosen Drogendealers geraten. So hatte sie O’Keefe gezwungen, auf den Verdächtigen zu schießen, um ihr Leben zu retten, noch bevor er und sein Partner Rico ihn hatten vernehmen können.
O’Keefe hatte gekündigt, bevor man ihn entlassen konnte, doch die Wahrheit war, dass Alvarez eine junge, unerfahrene, störrische Anfängerin gewesen war, überzeugt von ihrer eigenen Brillanz und Unfehlbarkeit. O’Keefe, der älter war als sie und weitaus erfahrener, hatte alles darangesetzt, sie ins Bett zu kriegen. Sie hatten eine heiße Affäre gehabt, und sie war so weit gegangen, wie sie wagte, so weit, wie ihre verwundete Seele es zuließ.
In der Nacht der Schießerei vor De Maestros Haus hatte Alvarez die falsche Entscheidung getroffen, die beinahe tödlich geendet hätte - eine Entscheidung, die De Maestro die Möglichkeit gegeben hatte, mit seinem krummen Finger auf das Department und dessen Mitarbeiter zu deuten.
Am Ende hatten sie alle verloren, und nachdem O’Keefe gekündigt hatte, hatte sich Alvarez nach Grizzly Falls versetzen lassen. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Nie wieder würde sie jemandem so nahe kommen, jemanden so nahe an sich heranlassen wie Dylan O’Keefe, mit Ausnahme vielleicht von Pescoli, doch die Beziehung zu Regan
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