Montana 04 - Vipernbrut
war fast ausschließlich beruflicher Natur.
Sie knipste die Deckenlampe aus und trat ans Schlafzimmerfenster. Obwohl der nächtliche Himmel wolkenverhangen war, war es nicht ganz dunkel, da der Schnee das wässrige Licht der Straßenlaternen reflektierte. Es war still draußen, jetzt fielen auch wieder vereinzelte Flocken. Eine friedliche Kulisse, dennoch konnte sie sich des beunruhigenden Gefühls nicht erwehren, dass sich etwas Böses, Unheilvolles in der Dunkelheit zusammenbraute.
Draußen lauerte ein Killer, verbarg sich in der Finsternis, schlich durch düstere Gassen, war auf der Hut, wachsam. Beinahe hatte sie den Eindruck, er könne sie sehen, wie sie hier, in ihrem Schlafzimmer, am Fenster stand. Angestrengt blickte sie in die Dunkelheit hinaus und spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Obwohl sie für gewöhnlich nichts auf »Bauchgefühle« gab, verspürte sie heute Nacht eine lähmende Kälte, die ihr vor Augen führte, wie abgrundtief böse der Mann sein musste, der Lara Sue Gilfry etwas Derartiges angetan hatte.
Sie blinzelte, meinte eine Bewegung wahrzunehmen, einen Schatten, der durch den Schnee huschte, gerade am Rand ihres Blickfelds, die Umrisse einer dunklen Gestalt.
Ich kriege dich, hörte sie leise Worte aus den dunklen Tiefen ihres Gehirns. Ich kriege dich, es gibt keinen Ausweg!
»Unsinn«, murmelte sie, »adoquin!« Das war der Lieblingstadel ihrer Großmutter, den sie immer dann aussprach, wenn sie meinte, eines ihrer Enkelkinder benehme sich albern.
Nein, sie würde jetzt nicht die Nerven verlieren, dachte Alvarez entschieden, schloss die Jalousien und schlüpfte unter die kühle Decke. Mrs. Smith sprang aufs Bett, fing an zu schnurren und machte ein großes Getue darum, das richtige Fleckchen auf dem zweiten Kissen zu finden, auf dem eigentlich der Kopf eines Mannes hätte liegen sollen.
Eine Vorstellung, die sehr weit hergeholt war, auch wenn sie durch die plötzliche Rückkehr von Dylan O’Keefe in ihr Leben wieder ein Stück näher gerückt war. Unweigerlich musste sie daran denken, wie verliebt sie einst in ihn gewesen war. Zumindest hatte sie das geglaubt.
»Adoquin«, wiederholte sie flüsternd. Dann schloss sie die Augen, versuchte, nicht länger an O’Keefe zu denken, daran, wie sie sich nach all den Jahren, nach all dem Liebeskummer, noch immer von seinem sinnlichen Lächeln, seinen schelmisch funkelnden Augen und seinem festen, muskulösen Po in den verwaschenen Jeans angezogen fühlte. Er würde ihr doch nur das Herz brechen. Zum zweiten Mal. Und womöglich würde er ihr heimzahlen wollen, was sie ihm damals angetan hatte.
Doch im Grunde tat das nichts zur Sache, dachte sie, schüttelte ihr Kissen auf und legte sich auf die Seite. Sie hatte ein gewaltiges Problem, was menschliche Nähe anbetraf. Ein Riesenproblem. Und das hatte sie ihrem Cousin Emilio zu verdanken, der sie vor einem halben Leben vergewaltigt hatte.
Dieser verfluchte Zeitungsjunge!
Nie kam er rechtzeitig, zumindest nicht früh genug für Mabel Enstad, die stets vor Anbruch der Morgendämmerung aus den Federn sprang, gegen vier Uhr morgens, um in Ruhe ihren Morgentee zu trinken, dazu ein paar biscotti zu essen und die Zeitung zu lesen, bevor ihr Mann wach wurde. Es ging bereits auf sechs Uhr zu, und wie immer um diese Uhrzeit schnarchte Ollie wie ein ganzes Sägewerk.
Sie spähte durch die Vorhänge und stellte fest, dass es wieder heftig schneite; in der Nähe des Post-und Zeitungskastens waren jedoch keine Spuren zu sehen, die darauf hingedeutet hätten, dass der Zeitungsjunge schon da gewesen war.
»Fauler Bursche«, knurrte sie, wohl wissend, dass es sich bei dem »Zeitungsjungen« in Wirklichkeit um Arvin North handelte, diesen sechsunddreißigjährigen Versager. North war Vater von vier Kindern, und er kämpfte mit seiner Frau um jeden Cent, den sie an Unterhalt von ihm forderte. Es ärgerte Mabel, einen Teil ihres hart verdienten Geldes an diesen trägen Taugenichts verschwenden zu müssen, deshalb schickte sie zur Adventszeit, wenn andere Leute den Post-und Zeitungsausträgern ein kleines Dankeschön zusteckten, eine Weihnachtskarte mit vierzig Dollar in nagelneuen Zehn-Dollar-Scheinen an Roberta, die ehemalige Mrs. North, eine liebenswerte Frau, die im Kirchenchor sang. Natürlich anonym und stets mit einer kurzen Nachricht, die besagte, dass jedes der vier North-Kinder einen der Scheine zu Weihnachten bekommen solle. Mabel ließ den Vorhang los und nahm sich vor, noch diese Woche zur
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