Montana Creeds - Soweit die Sehnsucht trägt (German Edition)
er auf. Seine tiefblauen Augen strahlten eisige Kälte aus, als er sich zu ganzer Größe aufrichtete.
Als Kind hatte er immerzu gesungen und sich dabei auf der Gitarre begleitet. Aber Jakes Alkoholexzesse und der Selbstmord seiner Mutter hatten diese Lieder irgendwann verstummen lassen. Seitdem waren sie nie wieder zum Vorschein gekommen.
“Logan will mit dir reden”, sagte Dylan ohne Vorrede, da bei Tyler bereits ein simples “Hallo” verkehrt sein konnte.
“Habe ich gehört”, erwiderte er. “Natürlich interessiert mich das kein bisschen.”
Cassie sah die zwei Brüder besorgt an und lockte Bonnie mit dem Versprechen auf einen Keks in die Küche.
“Wenn du mich auf die Palme bringen willst, Tyler, dann musst du dir schon was Besseres einfallen lassen. Wieso bist du zurück in Stillwater Springs?”
“Das wollte ich dich auch gerade fragen”, konterte Tyler und drehte sich um, als er Bonnie in der Küche kichern hörte. “Süßes Kind”, fügte er hinzu, und für einen Sekundenbruchteil regte sich ein warmes Leuchten in seinen Augen. “Bonnie, richtig?”
“Richtig”, bestätigte Dylan und wartete nach wie vor darauf, dass Tyler explodierte. Er und Tyler waren über die Jahre hinweg immer wieder aneinandergeraten. Die Schlägerei bei Jakes Beerdigung war da nur eine Episode unter vielen gewesen. Vor einer Weile waren sie sich beim gleichen Rodeo begegnet, und Tys Freundin hatte sich Dylan an den Hals geworfen – wohl um Tyler eifersüchtig zu machen.
Er war nicht darauf eingegangen. Aber die Frau, an deren Namen er sich nicht mal erinnern konnte, hatte Tyler abserviert. Sie war die ganze Nacht weggeblieben und hatte anschließend behauptet, bei Dylan im Hotelzimmer gewesen zu sein. Zwar war das eine Lüge gewesen – er hatte die Nacht mit einer Frau verbracht, und er stand nicht auf flotte Dreier –, doch Tyler hatte ihm kein Wort geglaubt.
Wären nicht zehn Cowboys dazwischengegangen, um die beiden zu trennen, hätte es am Tag des Rodeos gleich hinter den Boxen eine Schlägerei gegeben.
“Ich gehe jetzt”, erklärte Tyler. “Ich wollte nur Cassie Hallo sagen.”
Dylan nickte. Ihm war klar, dass Tylers Rückkehr irgendeinen Grund hatte. Soweit er wusste, hatte er Stillwater Springs nicht mehr betreten, seit Sheriff Book sie am Morgen nach Jakes Beisetzung aus der Zelle entlassen hatte. Doch er brauchte gar nicht erst zu versuchen, seinem Bruder eine Antwort zu entlocken.
“Man sieht sich”, sagte er.
“Nur, wenn ich es nicht verhindern kann”, gab Tyler zurück. Als Kinder hatten sie das immer zueinander gesagt, doch jetzt meinte er es ernst.
Ein unangenehmes Gefühl überkam Dylan. Er und Logan redeten wenigstens miteinander, auch wenn sie noch einiges zu klären hatten. Bei Tyler würde es so weit wohl gar nicht erst kommen.
Sein jüngerer Bruder war ein Einzelgänger, und das wollte er offenbar auch bleiben.
“Was macht er hier?”, fragte Dylan, als Cassie aus der Küche kam und von draußen zu hören war, wie Tyler seinen SUV startete und den Motor aufheulen ließ.
Sie setzte sich an den Tisch, nahm Bonnie auf ihr Knie und löffelte der Kleinen anscheinend mühelos Brei in den Mund. “Warum hast du ihn nicht selbst gefragt?” Seit Jahren versuchte sie, die drei zu einer Versöhnung zu bewegen, damit sie sich wie richtige Brüder benahmen. Obwohl sie bislang keinen richtigen Erfolg hatte erzielen können, schien sie in ihrem Bemühen nicht nachlassen zu wollen.
“Da könnte ich auch den Totempfahl in der Bibliothek fragen”, antwortete Dylan, öffnete den Kühlschrank und nahm eine Dose Soda heraus. Vor Bonnie hätte er nach einem Bier gegriffen, aber da man nie wissen konnte, ob man mit einem so kleinen Kind ganz plötzlich in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses fahren musste, hielt er sich von Alkoholischem lieber fern.
Cassie lächelte ihn an. “Du warst in der
Bibliothek
?”
Dylan öffnete die Dose und trank einen Schluck Soda. “Wie du weißt,
kann
ich lesen. Ja, ich hatte als Kind Dyslexie, aber ich habe gelernt, damit umzugehen.”
“Das meinte ich damit nicht”, erwiderte Cassie liebevoll. Wie viele Abende war sie wohl hier am Tisch gesessen, um die “Sonderlektionen” mit ihm durchzuarbeiten, die er nach diversen Lesetests aufbekommen hatte?
“Ah”, machte Dylan. “Ja. Ob ich Kristy gesehen habe, willst du wissen.”
“Und?”
“Ich habe sie gesehen.”
“Überschütte mich bloß nicht so mit Informationen.”
Er seufzte.
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