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Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Titel: Montauk: Eine Erzählung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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wieder. Hätte W. sich mit Leistungen zufrieden geben können, womit andere sich zufrieden geben müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, es wäre ihm ein Leichtes gewesen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das wußte auch er. Überhaupt hatte ich meinem Freund wenig zu sagen. Es kam vor, daß ich ihm mit Kritik begegnete, und was geschah: W. hörte sie sich an, aber meine Kritik erwies sich als gewichtlos, verglichen mit der Kritik, die W. sich selber gegenüber hatte. Von Dünkel keine Spur. Im Gegenteil. Er erkannte sich als einen Geschlagenen. Und ich erkannte, wie sehr er mich schonte; die Ansprüche, denen kaum ein Mensch genügt, richtete W. einzig und allein an sich selbst, nicht an mich. Natürlich hat W. ein Urteil über Leute, ein strengeres sogar, als andere es aussprechen, ein gründliches und daher ein kompliziertes; aber er gibt es nicht preis, weder gegenüber Dritten noch unter vier Augen. Er will einen nicht vernichten. Sein Wahrspruch zur Person bleibt sein Geheimnis; gelegentlich trägt er nicht leicht daran. Das spürte man. Mein Größenwahn mußte ihm oft eine Pein gewesen sein. Dann zogensich unwillkürlich seine Brauen zusammen, er schwieg. Eigentlich konnte ich sein Urteil nur ahnen, und er verließ sich darauf, daß man nur so viel ahnt, als man im Augenblick erträgt. Gierig auf Anerkennung durch ihn, der ein gründlicheres und wacheres Urteil hat als die Öffentlichkeit, war ich natürlich empfindlich, wenn W. mich plötzlich lobte zum Beispiel für meine Geschicklichkeit beim Anzünden eines Herdfeuers in einer Berghütte oder bei der Reparatur meines Fahrrades, später beim Steuern meines Fiat oder bei der Zubereitung einer Paella mit Krebsen oder bei ähnlichen Aktionen. Das war ein ganz und gar ehrliches Lob; denn unehrlich loben konnte W. nicht. W. war mein Trauzeuge, ich der seine. Es gab auch in späteren Jahren genug, worüber wir, ohne daß W. sich zu meinen Büchern äußern mußte, tagelang sprechen konnten, wenn wir wieder einmal wanderten; W. erlebte sehr viel, keine Abenteuer äußerlicher Art, sondern er erlebte sich selbst in einer Weise, daß auch Vorkommnisse, die bei andern ein triviales Mißgeschick bleiben, in seinem Fall ein exemplarisches Gewicht bekamen, sei es das Bersten einer Wasserleitung oder sein verspätetes Eintreffen zu einer Auktion oder das Verhalten der Pflegemutter seiner Tochter. Es konnte mühsam sein, doch immer wieder begriff ich, warum ich W. bewunderte; er konnte berichten mit einer Fülle von Implikationen, daß man nachher den Eindruck hatte, selber erlebe man fast nichts. Wie W. die letzten Wochen seines alten Vaters schilderte, werde ich nie vergessen. Die Villa, die ich nicht mehr besuchte, wurde in seinem Bericht gespenstisch, und daß W. noch immer dort wohnte, eine Verdammnis. Dann sah ich ihn von der Seite an, während wir gingen und gingen, während er redete; Lenz im Gebirg. Er verglich sich nicht mit diesem, nicht mit Strindberg, nicht mit Hölderlin oder mit van Gogh, nicht mit Kleist, aber W. wußte sich ihnen näher als unsereins; eine tragische Existenz. Heute noch kenne ich seine Telefon-Nummer auswendig, und es sind mindestens fünfzehn Jahre her, seit ich sie zuletzt auf der Wählscheibe eingestellt habe. Auch ist es nie oder fast nie vorgekommen, daß ich nicht daran gedacht hätte: Heute hat W. ja Geburtstag. Ich schickte noch ein Telegramm zu seinem fünfzigsten Geburtstag, von Rom aus. Wann er mir gleichgültig wurde, weiß ich nicht genau. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß ich inzwischen wohlhabend war. Wie stellte er sich dazu? Manchmal hörte ich durch einen gemeinsamen Freund, einen Maler, zum Beispiel wie seine große Kunstsammlung ihn auffräße. Auch er, der Maler, bekam diese Kunstsammlung nie zu sehen; sie dürfte einmalig sein.Nachträglich fiel mir ein, daß ich seine Gefährtinnen, ausgenommen die Bürgertochter, die W. geheiratet und auch nach der Scheidung oft erwähnt hat, nie zu sehen bekommen habe. Die erste, weiß ich, war eine Krankenschwester. Wenn W. von Gefährtinnen erzählte, so geschah es stets mit großem Ernst, auch wenn er den Namen verschwieg: Eine Spanierin in Barcelona. Er hatte den Mut zu großen Konflikten. Einmal bockte ich, als seine Mutter mir sagte, wie schwer er’s habe durch dieses Leiden seiner Frau, er komme kaum zu seiner Arbeit deswegen; ich äußerte Teilnahme auch für die leidende Frau. Ich meine nicht, daß W. ein simpler Egoist war. Er opferte sich nicht

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