Montauk: Eine Erzählung (German Edition)
tut. Ein Vorhang ist nicht zu ziehen, nicht nötig in dieser vergitterten Zweifensterwohnung mit Blick auf eine nahe Mauer. Wie ist es mit dem Licht? Übrigens schaut sie nicht nach dem fremden Mann, der nicht weiß, wo das Licht in der Kitchenette auszuknipsen ist; sie sagt es ihm. Er hofft in keine Rolle zu verfallen, nachdem das Gespäch bereits redlich gewesen ist. Ihr Körper ist deutlich zu erkennen, es ist ziemlich hell, Licht über der Stadt, ihr Gesicht ist deutlich zu erkennen, aber ein anderes Gesicht. Wieder fehlt ihm ein englisches Wort. YOUR ENGLISH IS EXCELLENT , sie meint damit: mehr gäbe es auch in seiner eignen Sprache nicht zu sagen, während die Körper aufeinander warten. JUST RELAX , sagt sie. Jedes erste Mal mit einer Frau ist wieder das erste Mal; die Verwunderung ohne Erinnerung. Nachher bleibt sie nackt, Lynn in der Kitchenette, während er, der gekleidete Gast, am Tisch sitzt und redet, jetzt froh um die Fremdsprache, die ihm das Gefühl gibt, er sage alles zum ersten Mal. Sie essen Erdbeeren dazu. Er hat nicht gemeint, Lynn zu kennen nach diesen Tagen und Abenden: Lynn als Undine und ein wenig Nurse. Jetzt kommt es ihm vor, Hermes habe sie vertauscht; es ist eine andere mit dem gleichen Haar, nur noch Undine, obschon sie jetzt berichtet von ihrer puritanischen Erziehung. Leider ist es Montag; sie muß ein paar Stunden schlafen. Das Geschirr muß am Abend gespült werden. Er hilft; er kann nicht am Tisch sitzen und sehen, wie die Nackte hantiert. Sie findet es nicht selbstverständlich, daß er das Gespülte trocknet. Die Kitchenette ist eng, wenn zwei Personen einander nicht berührensollen; es geht aber. Nur redet er nichts mehr. Wohin mit den Gläsern? Wohin mit dem Messer? Das will sie nicht sagen, sie bedankt sich mit Küssen; es käme ihr zu familiär vor, wenn er wüßte, wo alles hingehört.
Ein langer leichter Nachmittag:
ihre Schuhe im Sand, Lynn läuft noch immer und weitweg, im Augenblick ist die Gestalt kaum zu erkennen, da dort, wo sie jetzt läuft, das Meer unter der Sonne glitzert und blendet. Sie läuft herwärts, scheint es. Später wird sie deutlich: sie läuft in Bögen, wie Slalom, vermutlich läuft sie um die einzelnen Schaumzungen der Brandung, einmal schwingt sie ihre Arme dazu. Aus Lust.
DEJA VU :
22. 9. 1962 am Mittelmeer. Wie Du Dein Haar getragen hast: hinaufgekämmt das ganze Haar, die Ohren frei, der Hals mädchenhaft und bloß, und wenn Du die Spange herausgenommen hast, so viel offenes Haar, schwarzes.
Er bleibt sitzen.
Unterwegs auf der Straße tagsüber im Gedränge oder in einem Lift, wo man Personen aus der Nähe sieht, kommt es vor, daß er es nicht lassen kann: Lynn zu vergleichen mit andern Personen weiblichen Geschlechts, ihr Haar zu vergleichen mit anderem Haar, seine plötzlich so vage Erinnerung an ihr Gesicht zu vergleichen mit andern Gesichtern. Als habe er die Wahl des Paris! Er schaut nicht zudringlich, nur genau: Haaransatz hinter dem Ohr, Kinn, Hals, Lippen, die Nase, die ganze Gestalt, ihre Art zu gehen. Er schaut, um zu prüfen, ob seine Zärtlichkeit sich wirklich auf Lynn bezieht ... Oder belüge ich uns? ...
Er bleibt sitzen und schaut irgendwohin. Ein Taschenbuch, das er zur Hand hat, öffnet er nicht. Das Poltern und Zischen der Brandung würde nicht stören, wenn man liest; auch nicht das kleine Sportflugzeug, das jetzt dem langen leeren Strand entlang zurückfliegt; auch nicht ein Hund. Man kann aus einem Buch auch aufblicken und sich sagen: Nachmittag am Atlantik, es ist jetzt genau 4.35 P. M. Literatur hebt den Augenblick auf, dazugibt es sie. Die Literatur hat die andere Zeit, ferner ein Thema, das alle angeht oder viele – was man von ihren zwei Schuhen im Sand nicht sagen kann ...
AUF DER WELT SEIN : IM LICHT SEIN. IRGENDWO (WIE DER ALTE NEULICH IN KORINTH) ESEL TREIBEN, UNSER BERUF! – ABER VOR ALLEM : STANDHALTEN DEM LICHT, DER FREUDE IM WISSEN, DASS ICH ERLÖSCHE IM LICHT ÜBER GINSTER, ASPHALT UND MEER, STANDHALTEN DER ZEIT, BEZIEHUNGSWEISE EWIGKEIT IM AUGENBLICK. EWIG SEIN : GEWESEN SEIN.
Leben im Zitat.
Wenn die Haut empfindet, wie der Sand trocknet auf der Haut, wie die Sonne, wie der Wind, wie das ist für die Haut und das Hirn ... Er vergißt nicht seine Rolle, nicht die nächsten Verpflichtungen, die sich ergeben aus dieser Rolle; Termine, er vergißt nicht einmal die Weltlage. Es ist allerlei, was er nicht vergißt in dieser dünnen Gegenwart.
MONTE ALBAN
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