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Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Titel: Montauk: Eine Erzählung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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oder Mundart, überrascht es mich, was und wie er denkt. Das genieße ich; dann ertappt ihn die Fremdsprache bei seiner wirklichen Meinung. Plötzlich lacht er, worüber er sonst nicht lacht. Lynn findet ihn nicht langweilig, so scheint es. Zum Beispiel sagt er, daß ich in meinem Leben nie in einem Bordell gewesen bin; er fügt hinzu: Deshalb bin ich auch kein politischer Mensch, weil ich alles verinnerliche. Da fehlt ihm allerdings die Vokabel. Verinnerlichen? Das muß er umschreiben, und Lynn sieht den Zusammenhang nicht, aber mich überzeugt er. SEXUALITY , so wie Lynn das ausspricht, ist hier ein öffentliches Thema. Ihre Ansichten dazu; ich wundere mich über seine. Als der Sohn fünfundfünfzig war, sagte seine Mutter nicht ohne Strenge: Du solltest nicht immer über Frauen schreiben, denn du verstehst sie nicht. Das erwähnt er nicht. Lynn kennt die Schweiz nicht. Das erspart ihm Reden, die mich langweilen. Was hält er von Psychiatern? Man kann nicht sagen, er habe C. G. Jung persönlich gekannt; er ist nur in seinen Vorlesungen gewesen. Das muß, wie Lynn sich ausrechnen kann, ziemlich lang her sein. Eigentlich hätte er davon nicht reden sollen. Im College ist Lynn eine preisgekrönte Speerwerferin gewesen, in Sidney ist sie geritten. Seine feste Überzeugung, daß Allende inChile mit amerikanischer Hilfe gestürzt worden ist, kann er behaupten, nicht beweisen. Kommunismus und Kapitalismus; sein langwieriger Versuch zu erklären, was der Unterschied ist zwischen Sowjetunion und Sozialismus –
     
    Etc.
     
    Vielleicht weil es zwischen Lynn und ihm nur die englische Sprache gibt, so daß er das eine und andere, was er sonst aussprechen würde, aus Faulheit nicht ausspricht, fällt ihm in ihrer Gegenwart mancherlei ein, was ihm sonst, wenn er’s aussprechen könnte, gar nicht einfällt; es ist ein Unterschied, ob man in einer Fremdsprache oder in der eigenen Sprache schweigt: schweigend in der Fremdsprache verdränge ich weniger, das Gedächtnis wird durchlässiger ... Zwei Mal bin ich bei einer Geburt dabei gewesen; meine Frau hat es gewünscht. Darüber habe ich nie geschrieben. Meine Frau hat gewünscht, daß nicht darüber geschrieben werde. Auch habe ich nie davon gesprochen, glaube ich. Ich sehe es nur. Es ist lang her.
     
    Was er alles nicht beschrieben hat:
     
    Vier Abtreibungen bei drei Frauen, die ich geliebt habe. Drei Mal ohne Zweifel, daß es richtig ist. Nie ohne Schrecken. Die Rolle des Mannes dabei, der dann den Arzt bezahlt. Ein Mal: weil ich verheiratet bin, und sie möchte meinen Freund heiraten. Ein Mal mit einem andern Grund: es ist zu spät in unsrer Geschichte. Wir sind Freunde geblieben. Ein Mal ist es ein Irrtum gewesen; eine Schuld, so denke ich später, meine Schuld. Ich habe nicht den Mut, das Kind zu verlangen; ich sehe sie so ohne Zögern (wenn auch voller Angst natürlich) und ich bin betroffen. Ich frage nur nochmals: Du willst es wirklich nicht? Sie weiß, daß ich bei ihr bleiben möchte. Als jüngerer Mann habe ich mir Kinder nicht eigentlich gewünscht; die schlichte Nachricht, daß ein Kind gezeugt worden ist, hat mich gefreut: der Frau zuliebe. Später wird es anders, aber ich bin nicht deutlich genug mit meinem Wunsch, ich wage es nicht, da ich die Geliebte so ohne Zögern sehe. Dann stehe ich in einer nächtlichen Straße, nachdem ich noch einmal gefragt habe, und warte in Erbarmen. Alles andere, so meinte ich, wäre Erpressung. Auch das ist lang her. Die Epressung wäre richtiger gewesen (in diesem Fall). Ein Mal rät der Arzt dazu und gegen unseren Wunsch.
     
    HOW DO YOU KNOW
     
    sagt Lynn, da er behauptet, Wolken dieser Art bedeuten gar nichts und morgen (Sonntag) werde wieder ein blauer Tag sein. Sie liegen in den beiden Sesseln, die sie nicht verschoben haben, Abstand etwas mehr als eine Armlänge. Wer hat sie hierher gestellt, zwei Sessel irgendwo auf einem meilenlang-leeren Strand? Das kann nur einer getan haben: HERMES . Er ist froh, daß Lynn da ist. Es wäre sehr leer ohne die junge Fremde, das Meer und das Gelände mit Dünen und Wind. Er könnte nicht lange hier sitzen, er müßte gehen. Ohne Ziel. Es wäre Sand wie auf Sylt (1949) und Meeresbläue wie bei Sperlonga (1962) und Erinnerung. Auch wenn er Lynn nicht anschaut: sie macht die Gegenwart, ihr Körper im andern Sessel. Sie weiß nicht, was er denkt; er weiß nicht, was sie denkt. Kein Bedürfnis, ihren Körper zu berühren. Lieber möchte er ihn zeichnen können. (Ich kann ein wenig zeichnen,

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