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Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Titel: Montauk: Eine Erzählung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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zu laufen, wie er grad Lust hätte, wagt er nicht; dazu ist sein Körper nicht schön genug. Er findet ein Holz und schleudert es hinaus, weit hinaus. Er ist froh, wenn er nicht weiß, woran er denkt, und wenn ihn der Gischt, das seichte Wasser mit Schaum, der Sand an niemand erinnern. Er möchte bloß Gegenwart. Das Holz, inzwischen wieder auf den Sand geschwemmt, greift er ein zweites Mal und schleudert es ein zweites Mal weit hinaus. Er möchte bloß sehen. Draußen ein kleines Boot der Küstenwache. Es ist erst drei Uhr; viel Zeit. Das Wasser, wenn es um die Waden strömt, ist kalt, und einmal verliert er beinahe den Stand. Das Holz, inzwischen wieder auf den Sand geschwemmt, läßt er liegen. Die kleinen Rinnsale im Sand, da und dort eine Muschel. Er fühlt sich wohl. Als er zu den beiden Sesseln zurückkommt, zeigt er eine Muschel, eine wie tausend andere. Lynn liegt in ihrem Sessel; ihr Körper, den er kennt, in Kleidern. Er hat das Bedürfnis zu stehen.
     
    Lynn wird seine Hysterie nicht kennenlernen.
     
    Eines Abends in Berlin, als ich sie nicht überzeuge (was in den letzten Jahren eigentlich die Regel ist) und als ich’s nicht ertrage, daß man mir jedesMal sofort ins Wort fällt, und als ich merke, daß ich mich selbst nicht überzeuge, gehe ich in die Küche und hole den Mülleimer, setze mich wieder an den Tisch, stelle den Mülleimer auf meinen Kopf und sage: Redet weiter!– bitte.
     
    Sie liegt im Sessel, sie hat sich ihr Gesicht gesalbt, auch den Hals, dann hat sie ihre dunkle Brille wieder aufgesetzt, I AM SLEEPY , sagt sie, da er nicht sagt, was er denkt. Natürlich schläft sie nicht. Es ist hier zu grell. Er hat die Pfeife ausgeklopft, er denkt: kratze die Pfeife aus, klopfe nochmals und blase nochmals (vielleicht ist Sand drin) und dann, statt zu reden mit der Pfeife in der Hand, stecke sie leer zwischen die Zähne, die Pfeife, bis der Tabak gefunden ist, dann stopfe die Pfeife mit dem rechten Daumen und mit Bedacht, der Augenblicke ausfüllt, Augenblicke ohne Gedächtnis, und wenn es so weit ist, stecke die gestopfte Pfeife in den Mund, so daß es zwar nicht unmöglich wäre zu reden, jedoch nicht höflich, schau auf das Meer, während du jetzt ein Streichholz anzündest, dann ein zweites und drittes, es ist windig am Meer, und ziehe mit Bedacht den ersten Zug, einen kurzen, dann einen zweiten, einen langen, bis du da bist ganz und gar. Im Augenblick gibt es nur sie beide in den beiden Sesseln, die sie nicht verstellt haben, da sie nicht ihnen gehören. Einmal ein streunender Hund. Lynn liest: Arbeit fürs Office, da sie gestern vor drei Uhr gegangen ist, und ab und zu liest sie auch nicht, im Augenblick kämmt sie ihr langes Haar gegen den Wind, ein hoffnungsloses Unterfangen, schön anzusehen. Einmal ein rotes Sportflugzeug, das im Tiefflug, als wolle es gerade landen, die ganze leere Küste entlang fliegt, dann verschwindet ... Er berichtet jetzt von Mykonos, der griechischen Insel mit den weißen Häusern und weißen Windmühlen. Wie das kleine Motorboot, das uns nach Delos bringt, in den Wellen hopst und wie das Wasser hereinschwappt, das berichtet er. Aber wen bringt es nach Delos? Kein Wort von der Frau, die heute ziemlich allein lebt. Kein Wort von sechs Jahren ohne Zerwürfnis, ohne Eifersucht, ohne Zermürbung; man wohnte nicht zusammen – Mykonos, nein, dahin wird Lynn in diesem Sommer nicht gelangen ... Einmal berichtet er von Rom, der Stadt, und was er in Rom gesehen und gehört hat in fünf Jahren. Rom muß schön sein, das weiß Lynn. Er berichtet nicht von der schrecklichsten aller Todesarten.
     
    Jetzt möchte Lynn einen Lauf machen.
     
    Er bleibt hier.
     
    Gegenwart bis Dienstag.
     
    Ihr nackter Körper ist mädchenhafter als ihr Gesicht. Wenn sie weiß, daß zum ersten Mal ihre Brüste gesehen werden, schließt sie die Augen und sagt: THEY ARE VERY SMALL . Das ist der Abend, als sie noch ihre Tasche im Hotel hat holen müssen. WE CAN’T MAKE LOVE , sagt sie, NOT TONIGHT . Ein sachlicher Grund. Wie sie zum ersten Mal ihr Bett aufdeckt, nachdem sie das Sofa ausgezogen hat: Erfahrung mit Männern, vermutlich nicht mit vielen. Wenn sie ihr Kleid abstreift, die Wäsche: ohne Hast. Sie zeigt, daß sie nicht die Verführte ist. Sie löst die Spangen aus ihrem Haar, sitzt, als sei sie allein, als gehe sie schlafen wie sonst; sie kennt sich als Nackte. Sie schweigt aber, während sie ihr Haar auskämmt; dann schüttelt sie ihr offenes Haar umher, wie sie es vermutlich immer

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