Montedidio: Roman (German Edition)
blicken. Weil die Frauen so redeten, habe ich von den Dingen gehört, die früher passiert sind. Papa war in jenen Tagen am Hafen, um seine Arbeit zu verteidigen. Die Einwohner von Neapel waren außer Rand und Band, sie standen mitten auf der Straße, schrien »iatevenne!« , haut ab!, und zeigten ihnen mit Feuer und Schwert, wo der Ausgang ist. Sie sind sogar dafür gestorben. Am Nachmittag dann habe ich Meister Errico danach gefragt. Er hat mir erzählt, dass damals alle auf der Straße waren, Don Liborio, Don Ciccio, der Hausmeister, die Frauen, die Werkstattgehilfen, ein einziges großes Getümmel. »Die Deutschen haben uns nur Verderben gebracht, sie ließen Bomben auf unsere Häuser regnen, zuletzt wollten sie alle jungen Männer mit nach Deutschland nehmen, damit sie für sie arbeiten, und wer sich nicht meldete, wurde erschossen. Auf den Straßen sah man nur noch Alte und Frauen. Wir wollten sie wegjagen, wir wollten nicht in unseren Verstecken bleiben. Die Amerikaner landeten noch nicht in Neapel, sie warteten ab, e nuie ce simmo scucciate d’aspetta’ , und wir hatten es satt zu warten.«
I CH WOLLTE NOCH MEHR HÖREN , nach einer Weile habe ich weiter gefragt. Meister Errico war gesprächig. »Sogar Don Petrella, der Pfarrer, ist mittendrin gewesen. Während der Bombenangriffe hatte er sich beigebracht, die Messe schnell zu lesen, höchstens eine Viertelstunde. Die Gewohnheit ist ihm geblieben, sodass man ihn heute Don Frettella nennt, von fretta , Eile. Als er gerade den Gottesdienst beenden wollte, nach der Kommunion, fing eine Alarmsirene an zu heulen. Statt das übliche Ite missa est zu sagen, sagte er: »Flieht, missa est!« Er selber floh als Erster, wie ein Hase, rannte mit gerafftem Priestergewand los und kam als Erster an, den Luftschutzkeller einzuweihen, dicht gefolgt vom Hausbesitzer, der als Zweiter ankam, Dritter war der pensionierte General De’ Frungillis. In den Septembertagen ging auch Don Petrella mitten in die Feuergefechte hinein, nicht um den Deutschen was anzutun, sondern um uns beizustehen. Denen, die bei den Schießereien starben, erteilte er die Absolution, sogar einem deutschen Soldaten. Alle in Montedidio, das ganze Viertel, waren auf die Straße gegangen, und als es vorbei war, habe ich gesagt: mo’ chesta città è ’a mia , nun ist diese Stadt mein.« Rafaniello hörte zu und hatte Tränen in seinen runden Augen, aber sie flossen nicht, sie traten heraus und kehrten
dann um.
P APA HAT MIT MIR GESPROCHEN , man hat Mama ein wenig Hoffnung gemacht. Vor dem Kaffee um sechs, die Gasse war noch still und dunkel, hat er sich ausgesprochen. Dieses Jahr fällt Weihnachten aus. »Ich hab nur sie, und sie stützt sich auf mich mit der ganzen Kraft, die sie noch hat. Schwach ist sie, aber nicht in den Händen, sie drückt fest zu, hat sogar ein Glas zerbrochen und sich geschnitten. Zusammen geben wir uns alle Mühe, es ist schwer. Wir ziehen dich nicht mit hinein, das ist eine Sache zwischen uns beiden, eine alte Geschichte von damals, als wir während der Bombardierungen in den Unterschlupf gingen und uns gegenseitig geschworen haben, dass wir uns nicht mal von den Bomben trennen lassen würden: nisciuno c’adda spàrtere , niemand soll uns entzweien. Als eine Bombe ganz in der Nähe explodierte, musste sie wegen des Luftdrucks erbrechen, ich habe ihren Kopf gehalten, sie hat zwischen meinen Füßen gespuckt, ich war froh, dass unsere Liebe auch das vermochte. Wir waren damals verlobt und waren enger verbunden als Verheiratete. Der Krieg hat uns das erlaubt. Wenn sie stirbt, bin ich nur noch eine Klinke ohne Tür.« Er hat sich bemüht, Italienisch zu sprechen, er wollte mit mir reden, er hat mich ernst genommen. Ich habe nichts gesagt, habe ihm direkt ins Gesicht geschaut. Das ist wenig, ihm nur gegenübersitzen und ihm so aufmerksam zuhören, wie ich nur konnte, reglos und mit offenen Augen. Dann hat er die dunklen Gedanken verscheucht: »Wir werden wieder alle drei zusammen sein, als wäre nichts geschehen, wir werden wieder unsere Sonntage haben. Erinnerst du dich an die Solfatara?« Es war Zeit aufzubrechen, das Gespräch war beendet, er ist aufgestanden, hat seine Tasse im Waschbecken ausgespült. Es ist das erste Mal, dass er das macht, er hat sich nass gespritzt, sich abgetrocknet, hat mir zugelächelt.
E R HAT MIR GROßES V ERTRAUEN gezeigt, er hat mir alles gut erklärt und das gelernte Italienisch mit der ganzen Geduld eingesetzt, die er dafür braucht. In seinem
Weitere Kostenlose Bücher