Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
einbalsamieren lassen. Dann sieht sie auch sehr viel besser aus.«
»Hören Sie, Mrs Varini«, erwiderte Jennifer. »Ich reise um die halbe Welt, um meine verstorbene Großmutter noch einmal zu sehen. Ich will, dass sie bis zu meiner Ankunft unangetastet bleibt. Und ganz bestimmt will ich nicht, dass sie von einem Balsamierer in kleine Stückchen zerlegt wird. Wahrscheinlich werde ich sie einäschern lassen, aber das möchte ich erst entscheiden, wenn ich sie ein letztes Mal gesehen habe, okay?«
»Wie Sie wünschen«, erwiderte Kashmira, doch ihr Tonfall ließ vermuten, dass sie keineswegs damit einverstanden war. Dann gab sie Jennifer ihre Durchwahl und bat noch einmal dringend darum, ihr so schnell wie möglich die Reisepassnummer durchzugeben.
Jennifer klappte das Handy zu. Ihre Bestürzung und ihr Ärger darüber, dass die Patientenbetreuerin so taktlos und ausdauernd auf einer sofortigen Entscheidung beharrt hatte, obwohl sie doch deutlich gemacht hatte, dass sie es noch nicht wusste, hatte zumindest ihren größten Schmerz gelindert. Doch dann zuckte sie mit den Schultern. Manche Leute besaßen eben eine mangelhafte soziale Kompetenz. Kashmira Varini war vermutlich irgendeine mittlere Verwaltungsangestellte und musste auf irgendeiner Liste den Punkt »Leichnam beseitigen« abhaken.
Als sie mit schnellen Schritten den Umkleideraum verließ, überlegte sie, was sie in den nächsten Stunden alles erledigen musste. Auch das würde ihr wohl dabei helfen, damit ihre Gedanken nicht ständig um den Tod ihrer Großmutter kreisten. Zunächst würde sie zurück in den OP gehen und Dr. Peyton ihre Situation erklären. Dann würde sie nach Hause hetzen, ihren Reisepass holen und die Nummer durchgeben. Anschließend würde sie das Dekanat der medizinischen Fakultät aufsuchen und dem Dekan das Ganze schildern.
Jennifer trat durch die Schwingtüren des Operationsbereichs und blieb am zentralen Stationstresen stehen. Während sie wartete, bis sie eine der viel beschäftigten OP-Schwestern fragen konnte, ob Dr. Peyton und ihre Kommilitonen immer noch in dem Anästhesieraum von vorhin waren, kam ihr unwillkürlich ein verwirrender Gedanke: Wie war es möglich, dass sie ausgerechnet durch CNN vom Tod ihrer Großmutter erfahren hatte, und zwar anderthalb Stunden bevor sie von dem Krankenhaus verständigt worden war? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht erklären und beschloss, diese Frage den zuständigen Stellen in der Klinik zu stellen, sobald sie in Indien war. Eigentlich ging sie davon aus, dass die nächsten Angehörigen grundsätzlich zuerst informiert werden mussten, bevor irgendwelche Namen an die Medien herausgegeben wurde. Allerdings konnte es natürlich sein, dass das zwar in den Vereinigten Staaten so gehandhabt wurde, aber nicht in Indien. Doch führte dieser Gedanke sie zur nächsten Frage: Welches Interesse konnte CNN überhaupt daran haben, den Namen ihrer Großmutter zu veröffentlichen? Sie besaß ja nicht gerade Promistatus. Vielleicht als Hinführung zum Thema »Medizinischer Tourismus«? Und wer war diese bekannt zuverlässige Quelle, die behauptete, dass ihre Großmutter nur die Spitze des Eisbergs war?
Kapitel 4
Montag, 15. Oktober 2007
23.40 Uhr
Delhi, Indien
(Als Jennifer sich gerade fragt, wieso der Tod ihrer Großmutter auf CNN gemeldet wurde)
K ashmira Varini war eine schmale, blasse, nüchterne Frau, die nur selten lächelte und deren Hautfarbe einen krassen Gegensatz zu ihren unvermeidlichen Saris bildete. Selbst um diese Uhrzeit war sie, als man sie ins Krankenhaus zurückgerufen hatte, um den Tod von Maria Hernandez zu regeln, in ein frisch gebügeltes farbenprächtiges rot-goldenes Gewand geschlüpft. Nach außen hin wirkte sie fast leblos und nicht besonders sympathisch, aber sie machte ihre Arbeit gut und vermittelte den Patienten ein Gefühl von Stärke und gleichzeitig beruhigender Tüchtigkeit, Effizienz und Hingabe, wobei ihr ausgezeichnetes britisches Englisch auf jeden Fall eine große Hilfe war. Patienten, die aus fernen Ländern anreisten, um sich hier einer Operation zu unterziehen, waren selbstverständlich ängstlich und aufgeregt, aber sie war in der Lage, ihnen diese Nervosität zu nehmen, sobald sie in der Klinik angekommen waren.
»Konnten Sie aus meinen Worten schließen, was Ms Hernandez gesagt hat?«, erkundigte sich Kashmira. Sie saß an einem Lesetisch im Büro des Klinikdirektors. Er saß ihr gegenüber. Im Gegensatz zu ihrer eleganten
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