Monuments Men
November 1944 enden werde, und empfahl seinen Offizieren, sich allmählich mit dem Gedanken an eine Versetzung zum pazifischen Kriegsschauplatz vertraut zu machen. 85 Zudem war der nasskalte Sommer der Normandie mittlerweile ruhigem, klarem Wetter gewichen, wodurch Walker Hancocks erster offizieller Einsatz als Monuments Man der 1. US-Armee – eine Fahrt mit dem Jeep gemeinsam mit seinem Monuments-Kollegen Hauptmann Everett »Bill« Lesley zur Inspektion eines geschützten Bauwerks in der Nähe der Nachhut der 1. Armee – beinahe zu einer Sightseeingtour geriet. Hancock schrieb in seiner gewohnt heiteren Art an Saima, dass »jede Stunde eines jeden Tages ein Vergnügen ist«. 86
Die Schäden, die er feststellte, waren minimal. Die Deutschen waren 1940 im Eiltempo über Nordostfrankreich hinweggezogen. Vier Jahre später hatten die Alliierten das Gebiet rasch zurückerobert, wodurch große Teile des Landes vom Krieg unberührt blieben. Die meisten Probleme rührten von den deutschen Besatzungstruppen her: Verschiedene örtliche Museen waren geplündert, Felder waren durch Minen oder auf andere Weise unbenutzbar gemacht worden; kleine Objekte wie Kerzenhalter oder Fenstergriffe aus Messing waren als Souvenirs gestohlen worden. Einige Gemälde waren verschwunden, doch am schwersten wog die Zerstörung der kostbaren Louis-quatorze-Möbel, die in den großen alten französischen Landsitzen weit verbreitet waren. Die meisten dieser Möbel waren als Brennholz verwendet worden, um Platz zu schaffen für die übermäßig gepolsterten modernen Möbel, die den deutschen Offizieren mehr zusagten. Natürlich waren sämtliche Weinkeller geleert worden, und viele der besonders teuren Jahrgangsweine waren Flasche für Flasche durch billigen Apfelwein ersetzt worden, den die deutschen Soldaten bevorzugten. Die Arbeit erwies sich als sehr angenehm, zumal die meisten wichtigen Stätten bereits von dem angesehenen Konservator George Stout besucht worden waren, der für einen Einzelkämpfer, der in der Nähe der Front Dienst tat, erstaunlich weite Strecken zurückgelegt hatte.
Manchmal gab es auch durchaus spektakuläre Momente. Die Kathedrale von Chartres erhob sich seit jeher wie ein Berg über den Weizenfeldern. Aber in der üblicherweise sehr betriebsamen Stadt Chartres herrschte Ruhe, die berühmte Kathedrale stand trotzig allein auf weiter Flur. Noch stärker als bei seinen früheren Besuchen als Kunststudent an der Amerikanischen Akademie in Rom war Hancock beeindruckt von der Größe und Komplexität des Gotteshauses. Die großen Mauern und Türme mit ihren reichen Verzierungen zu erbauen, hatte Jahrhunderte in Anspruch genommen; es war ausgeschlossen, dachte er, dass vier Kriegsjahre etwas so Schönes auslöschen konnten.
Doch war die Gefahr für das Bauwerk in Wirklichkeit noch größer, als Hancock zu diesem Zeitpunkt bewusst war, denn fast hätte die deutsche Wehrmacht an einem einzigen Nachmittag etwas zerstört, dessen Entstehung über vier Generationen hinweg gedauert hatte. Als die Alliierten in Chartres ankamen, stellten sie nämlich fest, dass die Kathedrale beschädigt und möglicherweise sogar zerstört zu werden drohte durch 22 Sprengsätze, die an benachbarten Brücken oder anderen Bauten angebracht waren. Der Sprengungsexperte Stewart Leonard, der nach dem Ende der Kämpfe ebenfalls ein Kunstgüterschutzoffizier werden sollte, half mit, die Bomben zu entschärfen und dadurch die Kathedrale zu retten. Später erzählte er dem Monuments Man Bernie Taper bei einem Treffen in dessen Berliner Wohnung: »In der Bombenentschärfungseinheit zu arbeiten, hat einen großen Vorteil: Kein höherer Offizier schaut einem über die Schulter.«
Aber war es die Kunst wert, dass man sein Leben aufs Spiel setzte?, wollte Taper wissen. Wie alle Monuments Men beschäftigte ihn diese Frage. »Ich musste mich damals entscheiden«, entgegnete Leonard, »und ich habe mich entschlossen, die Bomben wegzuschaffen. Als ich fertig war, setzte ich mich in die Kathedrale von Chartres, die ich zu retten geholfen hatte, und saß dort fast eine Stunde lang. Allein. Dieses Erlebnis war meine Belohnung, und, ja, das war es wert.« 87
Würden künftige Generationen, überlegte Walker Hancock, verstehen, was es bedeutet hatte, diese Kathedrale unter der Bedrohung des Krieges zu erleben? Würden sie ihre Vollkommenheit mehr schätzen, wenn sie sie jetzt sehen könnten, ohne ihre Fenster, mit fast neun Meter hoch aufgestapelten Sandsäcken und
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