Monuments Men
Raub aber vor neugierigen Augen verbergen.
»Geht nicht, Kommandant«, sagte einer der Männer auf der Leiter.
»Dann lassen Sie das Bild hängen«, erwiderte der Kommandeur, der nun etwas gereizt wirkte. Es war fünf Uhr morgens, und er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Alles wegen einer Statue. »Lassen Sie das Bild hängen; es ist nicht wichtig. Laden Sie alles andere auf.«
Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis die Skulptur auf einen der Rot-Kreuz-Lastwagen gehievt war. Die Soldaten stiegen auf den zweiten Laster. Die Bilder landeten auf dem dritten, den der Soldat vor einer Stunde geholt hatte. Der erste Silberstreif der Morgendämmerung zeigte sich am Horizont, als der Pfarrer und der Küster, die in ihren Nachtgewändern an der Seitentür standen, verfolgten, wie die Brügger Madonna, die einzige Skulptur Michelangelos, die zu dessen Lebzeiten Italien verlassen hatte, abtransportiert wurde.
Der Pfarrer hielt mit seiner Geschichte inne und nahm einen Schluck Tee. Seine Hand zitterte noch immer leicht. »Man nimmt an, dass sie mit einem Schiff aus Brügge fortgeschafft worden ist«, schloss er betrübt, »möglicherweise aber auch mit einem Flugzeug. Wie auch immer, sie ist nicht mehr da.«
Ihm gegenüber rückte der Monuments Man Ronald Balfour, George Stouts Zimmerkollege in Shrivenham, seine Gelehrtenbrille zurecht und hielt die Information in seinem Feldtagebuch fest. Das Arbeitszimmer des Pfarrers mit seinen Buchreihen erinnerte ihn an seine eigene Bibliothek zu Hause in Cambridge.
»Haben Sie eine Ahnung, wann sie aus Belgien fortgeschafft worden ist?«
»Erst vor ein paar Tagen, vermute ich«, antwortete der Pfarrer traurig. »Vielleicht gestern, wer weiß?« Es war der 16. September, acht Tage nach dem Raub und drei Tage nach dem triumphalen Einzug der Briten in die Stadt.
Balfour klappte sein Notizbuch zu. Die Brügger Madonna war ihnen entwischt, war ihm entwischt, irgendwo zwischen Brügge und dem offenen Meer.
»Möchten Sie ein Foto?«
»Ich brauche kein Foto«, erwiderte Balfour gedankenversunken. Er war seit 1940 in der britischen Armee. Drei Jahre hatte er damit verbracht, im ländlichen England Nachwuchs für die Infanterie zu rekrutieren. Acht Monate lang war er zum Kunstschutzoffizier ausgebildet worden. Er hatte sich für diesen Einsatz ausreichend vorbereitet gefühlt. Er befand sich erst seit drei Wochen auf dem europäischen Festland, eingebunden in die 1. kanadische Armee an der nördlichsten Flanke der vorrückenden Truppen, aber schon jetzt schien der Job seine Fähigkeiten zu übersteigen. Es war das eine, in Rouen einzumarschieren und festzustellen, dass der Justizpalast zerstört war. Eine fehlgeleitete Bombe der Alliierten hatte im April am Anfang des Zerstörungswerks gestanden; die Deutschen hatten es vollendet, als sie am 26. August das gesamte Stadtviertel in Brand steckten bei dem Versuch, die Telefonvermittlungszentrale niederzubrennen. Balfour war knapp eine Woche zu spät gekommen, um das Gebäude noch retten zu können.
Aber das hier in Brügge war etwas anderes. Hier handelte es sich nicht um einen Kriegsschaden oder eine unglückliche Entscheidung während eines eiligen Rückzugs. Die Welt wusste schon lange, dass die Deutschen Kunstwerke raubten. Die Tatsache, dass sie es weiterhin taten, selbst angesichts des raschen Vormarsches der Alliierten, überstieg Balfours Vorstellungsvermögen.
»Nehmen Sie sie«, sagte der Pfarrer und hielt ihm einen Stapel Postkarten entgegen. »Verteilen Sie sie. Bitte. Sie kennen die Brügger Madonna. Aber viele der Soldaten nicht. Was ist, wenn sie sie in einer Scheune entdecken? Oder im Haus irgendeines deutschen Offiziers? Oder ...« – er machte eine Pause – »... auf dem Grund des Hafenbeckens? Nehmen Sie diese Postkarten, damit sie sie erkennen und wissen, dass sie zu den Weltwundern gehört.«
Der alte Mann hatte recht. Balfour nahm die Karten. »Wir werden sie finden«, sagte er.
13
DIE KATHEDRALE UND DAS MEISTERWERK
Nordfrankreich, Ende September 1944
Südbelgien, Anfang Oktober 1944
Mitte September 1944 traf der letzte der ursprünglichen MFAA-Feldoffiziere auf dem europäischen Festland ein: der gutmütige Hauptmann Walker Hancock, der direkt von London nach Paris flog. Wegen starker Bewölkung musste das Flugzeug tief fliegen, doch die deutsche Luftwaffe war mittlerweile aus dem französischen Luftraum verschwunden, und es bestand kaum noch Gefahr. Beim Blick aus dem Fenster sah Hancock die Stadt
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