Monuments Men
Einschusslöchern in ihren Türmen? Auf dem Boden erstreckte sich der gewundene Pfad, den Pilger seit Jahrhunderten auf den Knien zurücklegten, um Errettung zu erbitten. Darüber flatterten die Plastikplanen, die vor die Fenster gehängt worden waren, trotzig im Wind.
»Ich traf auf eine unerwartete Schönheit«, schrieb Hancock. »Die Fenster waren offen für den Himmel ... sodass man gleichzeitig das Innere und das Äußere dieses wundervollen Bauwerks sehen konnte. Die großen schwebenden Stützpfeiler zu verfolgen, bis sie in das Dach übergingen und sich in die Rippen des Gewölbes verwandelten, war eine anschauliche Lektion in gotischer Baukunst. Aber das war noch nicht alles. Von innen betrachtet, hatten diese mächtigen, speichenförmigen Bögen etwas Belebendes, diese Bögen, die so charakteristisch sind für Chartres und sich fast zu drehen scheinen, während sie sich an die Wände der Apsis drücken ... Man stand in dem Bauwerk und konnte über dem Kopf die Figuren der judäischen Könige und Königinnen und den Christus der Apokalypse in einem ganz neuen Licht sehen.« 88 Für einen Augenblick erschien die Kathedrale als ein Monument des Triumphes der Alliierten und zugleich als eine zeitlose Struktur, jenseits des Krieges, als etwas, das ewig stehen würde, selbst wenn es die Welt nicht mehr gab.
Aber dieser Moment sollte nicht von Dauer sein. Die Sonne ging unter, ihre Strahlen schlüpften durch die großen offenen Fensterbögen und krochen die Wände hinauf. Die Kampflinie lag in der entgegengesetzten Richtung, im Osten. Dort wurde seine Hilfe benötigt, wusste Hancock. Er schulterte sein Gepäck und kehrte zurück in den Krieg.
Ein paar Wochen später wurde Walker Hancock aus einem viel zu kurzen Schlaf gerissen. Über seiner Liege stand George Stout, der Monuments Man der 1. US-Armee, und sah trotz der frühen Stunde so geschniegelt aus wie eh und je. »Es gibt Arbeit für uns«, sagte er und griff nach seiner Fahrerbrille.
Draußen goss es in Strömen. Der Nebel war so dicht und der Himmel so stark bewölkt, dass Hancock nur die dunklen Umrisse der riesigen Baracken erkennen konnte, in denen die 1. Armee untergebracht war. Er erinnerte sich mit Entsetzen daran, dass Stouts Fahrzeug, der ramponierte deutsche Volkswagen, den er immer noch fuhr, kein Dach besaß und daher auch keinen Schutz vor dem Regen bot. Er zog seinen Mantel fester. Es war der 10. Oktober 1944, und man spürte, dass der Winter im Anzug war.
Er frühstückte mit Stout in der Kantine. Hancock war erst vor einer Woche im Hauptquartier der 1. US-Armee in Verviers angekommen, einer belgischen Stadt rund 30 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, und er hatte sich noch nicht an die Routine des Armeelebens gewöhnt. In der Nähe von Paris hatte er sich von Bill Lesley und dem Jeep getrennt und war eine Woche lang mithilfe von Mitfahrgelegenheiten durch Nordfrankreich gereist. Als er sich in den Süden Belgiens aufmachte, kam er in ein Gebiet, das die Deutschen auf ihrem Rückzug verwüstet hatten. Familien kehrten in ihre zerstörten oder geplünderten Häuser zurück. Maschinengewehrnester und zurückgelassene Ausrüstung waren über die Höfe und die Gärten verstreut. Die Dorfbewohner, von denen viele nur noch wenig zu essen hatten, weil die Felder längere Zeit nicht mehr bestellt worden waren, boten ihm als Dankeschön Zwiebeln und Tomaten an und verlangten trotz ihrer schwierigen Lage kaum eine Gegenleistung. Alle erzählten die gleiche Geschichte: Die Deutschen seien »wunderbar diszipliniert und korrekt« gewesen, solange sie die Oberhand hatten – und hatten zu wüten begonnen, als klar wurde, dass ihr Aufenthalt zu Ende ging.« 89
»Ich glaube, dass ich ab jetzt nur noch seltener und in größeren Abständen werde Briefe schreiben können«, schrieb Hancock an Saima. »Mein Leben ist plötzlich sehr betriebsam geworden. Mir schwirrt der Kopf, wenn ich darüber nachdenke, wo ich in den letzten zwei Tagen überall gewesen bin und was ich dort getan habe. Aber ich bin so glücklich und gehe so sehr auf in dem, was ich hier tue, dass mir die langen Monate des Wartens, Planens, Diskutierens und Lesens im Vergleich dazu sehr langweilig erscheinen.« 90
Jetzt war er in einer anderen Region unterwegs, dem hügeligen, waldreichen belgischen Osten. Im Regen wirkten die Hügel öde, und er fuhr an ihnen vorbei ohne die staunende Aufmerksamkeit, die er noch zu Beginn seiner Reise aufgebracht hatte. Stout fuhr gemächlich, die
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