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Monuments Men

Monuments Men

Titel: Monuments Men Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Edsel
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unzählige Bilder anschauen, aber man kann sich nicht vorstellen, was es für ein Gefühl ist, in einer dieser toten Städte zu sein.« 109 Der Schutt lag sechs Meter hoch, die Nebenstraßen waren lange, beengende Korridore aus zerstörten, aufklaffenden Fassaden. Gelegentlich huschten Gestalten vorbei – eine Gruppe marodierender Belgier, ein amerikanischer Soldat zu Pferd, der einen indianischen Kopfschmuck trug, den er in der Oper der Stadt gefunden hatte. Habe ich das wirklich mit eigenen Augen gesehen?, fragte sich Hancock, als der Rauch den Reiter verschluckte. Die Stadt zerfiel, große Mauerblöcke stürzten um ihn herum zusammen. Er schaute durch die Front eines leeren Hauses, durch dessen zersplitterte Dachsparren Teile des Himmels zu sehen waren. Die Fenster waren zerborsten, die Decke war eingestürzt. »Eine skelettähnliche Stadt«, sollte er später schreiben, »ist schrecklicher als eine, die von Bomben dem Erdboden gleichgemacht wurde. Aachen war ein Skelett.« 110
    In der Nähe des Stadtzentrums musste Hancock über einen Haufen faulig riechenden Schutts steigen. Hin und wieder tauchte die Kuppel des Doms auf, die wundersamerweise unversehrt war und sich über den eingestürzten Gebäuden erhob. Dann bog er um eine Ecke, und sie war wieder weg. Das einzige Geräusch war das Pfeifen der Granaten, die weiterhin von beiden Seiten abgefeuert wurden. Der Beschuss nahm zu. Zwanzig Häuserblocks weit musste sich Hancock, in den schmalen, gewundenen Straßen der Altstadt Deckung suchend, von einer Haustür zum nächsten Schutthaufen bewegen, wobei er jedes Mal weitereilte, wenn gerade eine Granate detoniert war.
    Die Tore des Doms standen offen. Er überquerte den Innenhof im Sturmlauf und betrat die Pfalzkapelle. Der achteckige Gebäudekomplex hatte sechs Jahrhunderte lang alle Ankömmlinge, Betende wie Pilger, gleichermaßen in sich eingesogen, sie von der Außenwelt abgeschnitten und den Händen Gottes überantwortet. Walker Hancock erging es nicht anders. Hier drinnen fühlte er sich sicher. Sämtliche Fenster waren zu Scherben zersplittert, doch auch dies vermochte das tiefe Empfinden von Frieden und Geborgenheit nicht zu stören. Der große Altarraum war voll mit Glasscherben und Steinbrocken. Unter dem Schutt konnte er Matratzen und schmutzige Tücher erkennen. Er ging langsam den Mittelgang hinab, die herumliegenden Scherben knirschten unter seinen Schritten. Auf den Kirchenbänken sah er Essensreste und Becher halb voll mit Kaffee. Ein behelfsmäßiger Altar war am hinteren Ende des Raumes vor einer improvisierten Trennwand aufgestellt worden. Als er in den gotischen Altarraum kam, sah er, dass eine Bombe der Alliierten die Apsis durchschlagen und den Hochaltar beschädigt hatte. Hancock sah, dass sich ihre glatten grauen Grate in das zersplitterte Holz bohrten. Erstaunlicherweise war die Bombe nicht explodiert, sodass Hunderte Menschenleben und eine tausendjährige Geschichte von der Auslöschung verschont geblieben waren.
    Hancock wandte sich wieder der Geisterstadt aus Tüchern und Bechern zu. Er starrte hinauf zu den Löchern, an deren Stelle vorher das bemalte Glas gewesen war. Die grazilen Fensterrahmen ragten kreuz und quer in den Himmel hinauf. Das erinnerte ihn an die großen leeren Fenster der Kathedrale von Chartres. Dann explodierten in schneller Folge mehrere Granaten; Rauch verdüsterte den Himmel. Hancock betrachtete das verlassene Flüchtlingslager um ihn herum; dabei fiel ihm eine zerbrochene Statue ins Auge, die ihm im Dämmerlicht entgegenstarrte. Hier war es doch ganz anders als in Chartres.
    »Mehr als elfhundert Jahre lang«, überlegte Hancock, »haben diese massiven Mauern hier gestanden. Dass ich gerade zur rechten Zeit erschienen bin, um als einziger Zeuge ihre Zerstörung mitzuerleben, ist unbegreiflich, aber auch in gewisser Weise beruhigend.« 111
    Er kehrte wieder in die Pfalzkapelle zurück, um die Schäden genauer zu untersuchen, als plötzlich eine Gestalt aus dem Dunkeln trat. Dies war für ihn weniger erschreckend als außergewöhnlich, wie Hancock überrascht feststellte. Er fühlte sich allein in einer anderen Welt. »Hier«, sagte die Gestalt und winkte Hancock zu sich. 112 Es war der Pfarrer des Doms, ein dünner, ausgezehrter Mann, der eine Laterne in der zitternden Hand hielt. Er führte Hancock schweigend eine schmale Wendeltreppe hinauf und wich dabei vorsichtig einzelnen Trümmern aus. Der Durchgang nach oben war eng, kaum eine Schulter breit, und Hancock

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