Monuments Men
seinem ersten Besuch in dem isolierten Kommandoposten, hatte er erlebt, wie sich die Soldaten durch rauchende Trümmer wühlten. Der Geröllhaufen war ein kleines Haus gewesen, das sie als Schlafquartier genutzt hatten; es war kaum eine halbe Stunde vor seiner Ankunft zerstört worden.
Der Schaden erinnerte Hancock an das Suermondt-Museum in Aachen, wo er einen Großteil des vergangenen Monats verbracht hatte. Bis auf einige Werke von lediglich lokaler Bedeutung waren aus diesem Museum alle Gemälde vor dem Beginn der Kämpfe ausgelagert worden. Als Monuments Man musste er herausfinden, wo sie geblieben waren. Daher zog er sich einen staubigen Stuhl heran und begann in den ramponierten Aktenschränken zu suchen, die noch immer in den von Bomben verwüsteten Büros standen. Es gab keinen Strom, und die wuchtigen Trümmerhaufen warfen eigenartige Schatten im Licht der Taschenlampe. Seine Lippen schwärzten sich, was an dem Staub lag, der in der abgestandenen Luft hing, und das Wasser in seiner Feldflasche war bald zu Ende. Aber er bemerkte diese Unannehmlichkeiten kaum. Die großen Skulpturen, an denen er in seiner Heimat arbeitete, brauchten Jahre bis zur Vollendung, manchmal Jahrzehnte; er hatte gelernt, geduldig und gewissenhaft zu sein. Und trotz der gelegentlichen glamourösen Momente im holländischen Außendepot in Maastricht oder in der Kathedrale von Chartres – die sorgfältige Sichtung von Informationen, die geduldige Recherche mit wachsamem Auge war die eigentliche Arbeit eines Monuments Man.
Hancocks Beharrlichkeit zahlte sich aus. Zunächst war er auf eine Liste von Schulen, Häusern, Cafés und Kirchen auf dem Land gestoßen, wo Bilder und Skulpturen gelagert worden waren. Er hatte mehrere dieser Stätten überprüft und eine eindrucksvolle Anzahl von Gemälden, darunter aber nichts von Weltbedeutung gefunden. Dann, gegen Ende seiner Suche, hatte er in einem Trümmerhaufen eine Entdeckung gemacht, die ihn elektrisierte: ein verstaubtes Verzeichnis der Exponate aus dem Suermondt-Museum, in dem jedes Objekt entweder rot oder blau markiert war. Eine handschriftliche Notiz auf dem Einband besagte, dass die rot markierten Objekte, die Hancock sogleich als die wertvollsten Stücke des Museums identifizierte, nach Siegen gebracht worden waren, eine Stadt ungefähr 160 Kilometer östlich hinter den feindlichen Linien.
Daran dachte Hancock jetzt wieder, als er in dem geschlossenen Dienstwagen saß – ein solcher Luxus nach all den Tagen, in denen er sich um Mitfahrgelegenheiten hatte bemühen müssen und sich abends ohne Essen schlafen gelegt hatte – und zur Front fuhr. In Siegen musste es eine große Verwahrstätte geben, ein Lagerhaus oder etwas Ähnliches. Vielleicht in einem Betonturm oder einer Kirche oder, wie das Kunstdepot, das er zusammen mit George Stout in Holland besucht hatte, in einer Höhle in einem Berg. Und wenn sich dort die bedeutendsten Werke des Suermondt-Museums befanden, warum sollte dort nicht auch der Aachener Domschatz zu finden sein? Die Büste Karls des Großen, das Lotharkreuz mit der Augustuskamee, der Schrein mit dem Kleid der Jungfrau Maria? Befand sich all dies ebenfalls in Siegen?
Aber wenn es nicht in Siegen war, wo dann? Siegen war eine große Stadt. Es gab unzählige mögliche Verstecke. Und es war keineswegs sicher, dass sich das Depot in der Stadt selbst befand. Es konnte auch zehn oder zwanzig Kilometer außerhalb liegen.
Hancock hatte begonnen, nach Auskunftspersonen zu suchen. Irgendjemand wusste mehr, davon war er überzeugt. Aber wer konnte das sein? Mit der Hilfe eines Archivars der MFAA war er die Listen der alliierten Internierungslager durchgegangen, in denen der größte Teil der Aachener Bevölkerung untergebracht war, und sie mit den Listen der kulturellen Repräsentanten der Stadt verglichen. Schließlich stieß er auf einen älteren Maler, der ihn zu einem Museumshausmeister brachte, welcher ihn an einige Architekten verwies. Aber niemand wusste etwas über Kunstobjekte in Siegen.
»Sie sind alle weg«, erklärte ihm der junge Hausmeister. »Nur vertrauenswürdige NSDAP-Leute waren in die Einzelheiten des Unternehmens eingeweiht, und die haben sich alle mit den Soldaten nach Osten abgesetzt.«
Aber die Suche nach dem Aachener Domschatz und nach Informationen über das rätselhafte Kunstdepot in Siegen war nur ein Teil seiner Aufgaben. Seit er in der Kampfzone angekommen war, hatte er den größten Teil seiner Zeit mit Inspektionsfahrten wie dieser
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