Monuments Men
verbracht, hatte gesicherte Kunstwerke untersucht und Anrufe von Feldkommandanten beantwortet. Anscheinend fanden die Amerikaner jedes Mal, wenn sie in ein Haus kamen, immer gleich einen »Michelangelo« zwischen den Bildern von Waldfeen und Blumen.
Aber dieser Anruf, den er nun erhalten hatte – das konnte der entscheidende Hinweis sein. Deshalb hatte er George Stout mit zurückgebracht. Wenn jemand die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen finden konnte, dann war er es. Nicht, dass Hancock seinem eigenen Urteilsvermögen nicht vertraut hätte; aber es erschien ihm sicherer, Stout bei sich zu haben. Immerhin waren die Bilder aufgetaucht, als er selbst sich die Frage zu stellen begonnen hatte, ob es in diesem Heuhaufen überhaupt eine Nadel gab.
Er ließ die vergangenen 24 Stunden Revue passieren, dachte daran, wie er das Bild zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte den Stil sofort erkannt. Flämisch. 16. Jahrhundert. Stammte es von Pieter Breughel dem Älteren, dem großen flämischen Meister, oder von jemand anderem, der mit ihm zusammengearbeitet hatte? Hancock hatte in Maastricht schon Werke vergleichbarer Qualität gesehen, aber keines hatte ihm so sehr den Atem verschlagen. Wenn man sah, wie ein Gemälde dieser Qualität an der Mauer eines Kommandopostens lehnte, inmitten von Kugeln und Dreck, dann begriff man, dass große Kunstwerke tatsächlich ein Bestandteil der Welt waren. Sie waren Objekte. Sie waren zerbrechlich – allein, klein, ungeschützt. Ein Kind auf dem Spielplatz wirkt stark, aber ein Kind, das allein in der Madison Avenue in New York City umherläuft – das ist schrecklich.
»Wo haben Sie es gefunden, Sir?«, hatte er den kommandierenden Offizier gefragt.
»In einem Bauerngehöft.«
»War irgendwas dabei?«
»Nein, das ist alles.«
Hancock hatte über die Fakten nachgedacht. Das war kein Bauerngemälde, sondern ein qualitativ hochwertiges Bild aus einem Museum. Es war eindeutig gestohlen und dann zurückgelassen worden, als sich die Deutschen zurückgezogen hatten. Aber es war nur ein einziges Bild, das kurzerhand beiseitegestellt worden war. Vielleicht stammte es aus einem individuellen Diebstahl, und ein vorbeikommender Offizier hatte es in einem Bauernhaus gefunden, sich aber dann des Bildes entledigt, als es zu einer lebensgefährlichen Bürde wurde. Es war kein Schlüssel zu irgendetwas. Aber deshalb war es als Kunstwerk nicht weniger wertvoll.
Er hatte das Gemälde angestarrt und an die matschige Straße zurück nach Verviers gedacht, die kilometerweit schutzlos deutschem Granatenbeschuss preisgegeben war. Der Jeep bot ihm selbst genügend Schutz, aber er fühlte sich unwohl dabei, diesem Fahrzeug einen Kulturschatz anzuvertrauen.
»Glückwunsch, Kommandant«, hatte Hancock gesagt. »Das ist wirklich ein wichtiger Fund.« Draußen detonierte eine Artilleriegranate, wodurch einige Splitter vom Dach gerissen wurden. Hancock war mit einem Satz zur Seite gesprungen; aber der Offizier wirkte völlig unbeeindruckt. »Ich wusste, dass es wichtig sein würde«, sagte er. »Ich wusste es.«
»Leider habe ich keinen Lastwagen zur Verfügung, Sir. Ich muss das Bild vorläufig hierlassen, aber ich komme morgen zurück.«
»Fahren Sie zurück zum Hauptquartier?«
»Ja, Sir, das tue ich.«
»Dann bitte ich Sie: Sagen Sie denen, sie sollen uns Lampen schicken. Wir haben hier nichts, womit wir Licht machen können – nicht einmal eine Kerze –, und nach Einbruch der Dunkelheit kann es verdammt ungemütlich werden.« 116
Im Hauptquartier lud sich Hancock am nächsten Tag nicht nur Taschenlampen, sondern auch den Oberst in den Wagen, der frisch vom SHAEF angekommen war und danach dürstete, die Kämpfe hautnah mitzuerleben, sowie George Stout, der gerade von der Front zurückgekommen war. Mittlerweile standen mehrals eine Million amerikanische Soldaten in Westeuropa, und daher hatte Eisenhower eine Verwaltungsdivision unter dem Befehl von General Omar Bradley eingerichtet. Bradleys 12. US-Heeresgruppe besaß die Gerichtsbarkeit über die 1., die 3., die 9. und die eben erst angekommene 15. Armee. George Stout war der 12. Heeresgruppe als Monuments Man zugeteilt worden. Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet: Er wurde nach oben befördert und mit Verwaltungsaufgaben betraut. Hancock hatte bemerkt, dass es Stout nicht eilig hatte, nach Paris zurückzukehren, um diesen Posten anzutreten.
Der Mann war ein echter Profi, ein Praktiker und der einzige qualifizierte Konservator
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