Moonlit Nights
beantworten. Ich wusste
genau, wie sich meine Stimme jetzt anhörte. Voller Trauer – falls
sie nicht mitten im Satz wegbrach. Ich fühlte mich, als wäre ich
angefahren worden und der Täter hätte mich achtlos auf der
Straße liegen gelassen. Schwer verletzt, blutend. Und keiner fand
mich ...
Meine Mutter hatte recht, manchmal war ich echt
melodramatisch, doch unter diesen Umständen gestattete ich es
mir. Schließlich ging es um Liam, über den wir hier sprachen. Ich
schüttelte den Kopf, als wüsste ich die Antwort nicht.
Glücklicherweise beließ Mr Graham es dabei und rief einen
anderen Schüler auf. Den Rest des Unterrichts verbrachte ich
schweigend neben Liam. Wir sprachen beide nicht.
Als es zur Pause klingelte, hatte ich den leichten
Hoffnungsschimmer, dass Liam seine Pause – wie bisher immer
– mit mir verbringen würde. Langsam ging ich hinaus, damit er
genau sah, wo ich hinging. Doch Liam machte keine Anstalten
mir zu folgen. Er ließ den Kopf wieder auf seine Tasche sinken,
als wollte er weiter schlafen. Kyle und Amilia rappelten sich
mühsam auf und gingen in das Holzhüttchen auf dem Schulhof,
wo sie immer ihre Pause verbrachten. Und wieder fragte ich mich,
was sie wohl getrieben hatten. Mich schmerzte nicht nur die
Einsicht, dass Liam mit Kyle und Amilia ausgegangen war, nein.
Viel quälender war, dass sie mich nicht gefragt hatten, ob ich
mitkommen wollte. Liam wollte mich also nicht dabeihaben. Ich
war offensichtlich nicht gut genug. Wie konnte ich mir nur
einbilden, dass jemand wie Liam sich für jemanden wie mich
interessieren würde.
Der weitere Schultag verlief eher schleppend. Ich war heilfroh,
als die Schulglocke mich endlich vom Unterricht erlöste – vom
Unterricht und von meinem treulosen Tischnachbarn, der immer
noch wie ein Schluck Wasser auf seinem Stuhl hing und ernsthaft
Mühe hatte, die Augen offenzuhalten. Montags und donnerstags
sollte Liam bei uns im Laden aushelfen. Heute würde ich ihm
bestimmt keine Gesellschaft leisten ... Und wenn sich noch einmal
so eine »Bananenkisten-Gelegenheit« auftat? Ein kleiner Schauer
lief über meinen Rücken, als ich mir vorstellte, ich könnte noch
einmal in Liams warmen, muskeldefinierten Armen liegen.
Ich schüttelte meinen Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Ich
würde heute nicht im Laden sein. Punkt und aus. Sollte er doch
Amilia fragen, wenn er Gesellschaft haben wollte. Von mir aus
konnte er ihr auch die Bananen in ihre heiß geliebten Haare
schmieren. In dem gefärbten wasserstoffblond würde das sowieso
nicht auffallen. Oder noch besser, ihr eine durch ihre zierliche
Nase bis hoch ins Gehirn schieben. Mit ihr schien er ja sowieso
lieber seine Freizeit zu verbringen. Grummelnd räumte ich
meinen Tisch auf und machte mich auf den Nachhauseweg.
»Jetzt warte doch mal!«
Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da nach
mir gerufen hatte, doch ich war noch zu sauer auf Liam. Beleidigt
stapfte ich weiter, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Schnell hatte er zu mir aufgeschlossen und blickte mich fragend
aus seinen trüben, dunkel-schattierten Augen an. Ich versuchte,
mich auf den Gehweg zu konzentrieren. Ich wusste, wenn ich ihn
ansah, würde meine Wut verfliegen und ich würde ihm sogar
verzeihen, wenn er Vater und Mutter erschlagen hätte.
Jeder normale Mensch, der eine Nacht ohne Schlaf – oder ohne
besonders viel Schlaf – verbracht hätte, sähe am Morgen danach
mehr tot als lebendig aus. Doch Liam, auch wenn er dunkle
Schatten unter seinen Augen hatte und äußerst mitgenommen
aussah, war immer noch zum Anbeißen.
»Gibt es irgendetwas, dass ich wissen sollte?«, fragte Liam
vorsichtig. Er schien zu spüren, dass mir irgendeine Laus über die
Leber gelaufen war. Aber so war das ja nicht ganz richtig. Es war
nicht irgendeine Laus gewesen; es war eine Amilia-Laus, um
genau zu sein. Und sie war nicht über meine Leber gelaufen,
sondern über Liam. Oder wie auch immer man es nennen wollte.
Eigentlich war ich noch nie besonders streitlustig gewesen, aber
heute war ein Tag, an dem ich Lust und Laune hatte, alles und
jeden zu erwürgen, der meinen Weg kreuzte.
»Sag du’ s mir!«, giftete ich zurück und funkelte ihn zornig an.
Verdutzt sah Liam mich an. Man konnte deutlich sehen, dass er
überrascht war, dass ich so reagierte. So kannte er mich
schließlich auch nicht. Wenn ich ehrlich war, kannte ich mich so
selbst noch nicht. Aber somit war ich heute
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