Moonlit Nights
»scheiden«, beendete er das Wort.
Ich starrte zurück. Liam sah heute Morgen wirklich schrecklich
aus! Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so etwas über Liam sagen
würde, doch hier half alles Schönreden nichts mehr. Seine Augen
lagen tief in den Höhlen, sein Haar war wuschelig – aber nicht auf
diese einladende Art und Weise, sondern eher ungekämmt – unter
seinen schwarzbraunen Augen zeichneten sich dicke Augenringe
ab und seine leicht gebräunte Haut wirkte aschfahl, als hätte er
nicht genügend Schlaf bekommen. Nicht genügend Schlaf? Das
war schon gar kein Ausdruck mehr. Er sah aus, als hätte er
Wochen – ach Quatsch – Monate nicht geschlafen!
Liam griff nach meiner Schultasche, die ich reflexartig festhielt.
Er machte nicht den Anschein, als könne er sich allein auf den
Beinen halten. Geschweige denn mit meiner Tasche voll von
Schulbüchern.
»Gib her!«, knurrte er mir entgegen, ohne mich anzusehen und ich
ließ eingeschüchtert los. So kannte ich Liam gar nicht. Bis jetzt
war Liam immer so überaus höflich gewesen, dass es schon fast
nicht mehr zum Aushalten war und jetzt? Ich amüsierte mich über
die Ironie, da ich vorhin noch gedacht hatte, ich würde Liam
schon ewig kennen. Aber was war bloß los mit ihm? Was um alles
in der Welt hatte er letzte Nacht getrieben? Wortlos gingen wir
nebeneinander den Schulweg entlang.
Wir schafften es gerade noch rechtzeitig in Mr Grahams
Unterricht. Erfreulicherweise war Mr Graham dabei, den
Fernseher startklar zu machen. Von dem Getuschel meiner
Klassenkameraden erfuhr ich, dass wir einen Film über
amerikanische Geschichte sahen. Liam und ich ließen uns an
meinem Tisch nieder. Ja, an meinem Tisch. Die Vorstellung, dass
Liam bis zum Schulende neben mir sitzen bleiben wollte, war
einfach zu unrealistisch. Er wartete vermutlich nur darauf, dass
irgendwo ein Platz frei wurde. Neben jemanden Beliebteren als
ich es war. Das durfte nicht sonderlich schwer werden, da unter
diesen Umständen jeder Platz in Frage kam. Liam warf unsere
Taschen auf den Tisch und ließ sich erschöpft auf den Stuhl
sinken. Er hatte noch nicht richtig Platz genommen, da lag sein
Kopf auch schon auf seiner Schultasche. Still setzte ich mich
neben ihn. Komischer Liam …
Tyler, der zwei Plätze von uns entfernt saß, tippte Kyle auf die
Schulter.
»Ey Alter!«, hörte ich ihn sagen, »schau dir mal Liam an!« Kyle
blickte zu Liam herüber. Als er ihn sah, weitete sich sein Blick
und ein hämisches Grinsen kroch über seine Speckbacken.
Kyle war mit Abstand der schrecklichste Schüler, den meine
Klasse zu bieten hatte. Noch behämmerter als Edwin und
Roswitha. Es verging fast kein Tag, an dem ich nicht von ihm
gehänselt wurde oder einen dämlichen Spruch an den Kopf
geworfen bekam.
Kyle war Kapitän der Football-Mannschaft. Und er sah genauso
aus, wie man sich einen Kapitän einer Football-Mannschaft
vorstellte. Ab und zu nannte ich ihn scherzhaft Gyle. Kyle hatte
mich mal dabei erwischt, wie ich ihn bei einem Gespräch mit
Edwin Gyle genannt hatte und nur Kyle war dämlich genug zu
glauben, es wäre mein Kosewort für ihn gewesen und ich hätte es
von »geil« abgeleitet. Auf so eine absurde Idee konnte auch nur
Kyle kommen, selbstverliebt wie er war. Allerdings sollte ich froh
darüber sein. Würde er die wahre Ableitung dieses Wortes
kennen, würde er mich vermutlich zerquetschen wie einen
Parasiten. Gyle rührte daher, weil Kyle sich einfach mit G-Worten
am besten beschreiben ließ. Er war groß, grobschlächtig (übrigens
mein Lieblingsadjektiv für Kyle) und gemein. Außerdem
geistesgestört, gierig und gewalttätig. Größenwahnsinnig nicht zu
vergessen. Zugegeben, er sah nicht schlecht aus und sein Körper
war besser gestählt, als der von Arnold Schwarzenegger. Selbst
Liam wirkte neben ihm schmal, aber irgendwie schien der
Muskelaufbau bei seinem Gehirn einen enormen Abbau bewirkt
zu haben. Wie ein Bernhardiner: Groß, plump und dumm. Die
Untersuchung von Gyle-Kyle wäre sicher ein interessantes Thema
für eine Doktorarbeit.
»Scht …«, zischte Kyle zu Liam hinüber, der mittlerweile
seine Augen geschlossen hatte und Kyle ignorierte. Kyle und
Tyler lachten dreckig. Ein Radiergummi kam aus Kyles Richtung
geflogen und traf Liam am Kopf. Wütend schlug er seine Augen
auf und funkelte die beiden an. »Was ist?«, fuhr er ihn mit einer
rauen, kratzigen Stimme an, welche mir durch Mark und Bein
ging, doch Kyle
Weitere Kostenlose Bücher