Moonlit Nights
wäre es – schließlich hatte er mich geküsst. Gut, er
hatte mich auf die Stirn geküsst, wie mein Vater früher, wenn er
mich zu Bett brachte, aber das war ja eh etwas anderes. Wie legte
man überhaupt den Zeitpunkt des Zusammenkommens fest? Ab
welchem Zeitpunkt ging man weiter und ab welchem verharrte
man lieber noch ein bisschen, um seinen Partner nicht in
Verlegenheit zu bringen? Wieder fluchte ich über die Komplexität
der Liebe. Wieso gab es keine Liste, wo so etwas genau
dokumentiert wurde? Eine Liste, die man einfach nur
»abarbeiten« musste? Ich konnte doch nicht die Einzige sein, die
sich solche Fragen stellte. Sollte ich später erwachsen sein, würde
ich so eine Liste aufstellen. Erstes Date = mehr als nur Freunde,
erster Kuss auf den Mund = Zusammensein usw. Ich war mir
sicher, dass alle Mädchen, die irgendwann an diesen Punkt
kommen würden, sehr froh über eine solche schriftliche
Zusammenfassung sein würden.
Die Schule verging wieder viel zu schnell. Ich hatte das Gefühl,
gar nicht wirklich anwesend zu sein. Zumindest bekam ich von
dem Unterricht nicht das Geringste mit. Immer, wenn es die
Unaufmerksamkeit der Lehrer zuließ, schielte ich zu Liam
hinüber. Ich freute mich, als sich unsere Blicke das eine oder
andere Mal trafen. Liam schnitt zwar immer eine alberne
Grimasse, wenn ein Lehrer etwas erklärte, was er schon längst
wusste, aber das machte mir nichts. Immerhin hatte er zu mir
herübergesehen. Das reichte mir.
Die Schule war aus und Liam ging mit mir nach Hause.
Dem Montag sei Dank, dachte ich vergnügt. Liam musste heute
arbeiten.
Im Laden angekommen, war mein Dad schon dabei, das frisch
gelieferte Obst aus dem Keller zu holen. Schnaufend kam uns
mein Vater entgegen. »Ich glaub’, ich werd‘ zu alt für so etwas«,
japste er und wischte sich mit dem Handrücken ein paar kleine
Schweißperlen ab, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten.
»Lassen Sie nur, Mr Forsyth. Ich mach’ das.« Liam legte seine
Tasche hinter die Kasse und krempelte sich die Hemdsärmel bis
zu den Ellenbogen hoch. Ich staunte erneut über seine gut
definierten Arme und das Muskelspiel, was darunter zu sehen
war, als er die Kiste mit Leichtigkeit anhob und zu dem
entsprechenden Tisch brachte. Ich ging schon mal in den Keller,
um die Obstkisten nach vorne zu stellen, deren Inhalt nicht mehr
ganz so tadellos aussah. Mühsam zog ich sie hervor. Mir war
immer noch unbegreiflich, wie Liam diese tonnenschweren Kisten
so einfach handhaben konnte.
Nachdem ich die Hälfte der Kisten vorgezogen hatte, ließ ich
mich auf einer nieder, um kurz zu verschnaufen, als mich ein
ohrenbetäubender Knall zusammenzucken ließ. Entsetzt fuhr ich
herum, um zu sehen, was diesen Lärm verursacht hatte. Da
erblickte ich ein altes Holzregal, das sich auf der einen Seite von
der Wand gelöst hatte. Ein paar alte Dosen, die darauf abgestellt
waren, waren zu Boden gefallen. Grummelnd, aber auch
gleichzeitig beruhigt, dass die Dosen für das Gepolter
verantwortlich waren, hob ich die Büchsen auf. Der Keller war
mit seinen ganzen Spinnen und Spinnennetzen schon unheimlich
genug – auch ohne undefinierbaren Krach. »Emma? Hast du dir
wehgetan?« Liams Stimme bebte voller Sorge, als er oben auf der
Kellertreppe erschien. Sein Blick schweifte durch den
unübersichtlichen Keller, wo er mich sitzend zwischen den Dosen
erblickte. »Nein, nein. Alles bestens«, wollte ich ihn beruhigen,
doch das schien gar nicht mehr nötig zu sein. Sein besorgter Blick
war einem spöttischen Lächeln gewichen. »Emma, du Tollpatsch
«, kicherte er, während er die Treppe herunterkam, um mir mit
den Dosen zu helfen. »Wie hast du das denn wieder geschafft?«
»Das war ich nicht, das ist von allein runtergefallen!«, verteidigte
ich mich, doch Liams Schmunzeln sah nicht so aus, als würde er
mir glauben – es sagte eher »ja klar«. Und das in einer Ironie, die
man noch nicht mal mit Lauten zustande hätte bringen können.
Ich griff nach einer weiteren Dose und fasste auf etwas Warmes.
Ich schaute herunter. Nicht, dass eines von den Mistdingern noch
ausgelaufen war. Wusste der Geier, zu was der Inhalt der Dose
bereits mutiert war. Mit Sicherheit zu nichts, was ich freiwillig
anfassen würde, doch zu meiner Überraschung war die Dose in
Ordnung. Es war Liams Hand, auf der meine Finger ruhten. Ich
wollte meine Hand sofort zurückziehen, doch Liam hatte sich zu
mir gedreht und sah mir so tief in
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