Moonlit Nights
dieser Seite hatte ich es noch gar nicht betrachtet. Jetzt verstand
ich, warum Liam so ungehalten reagiert hatte. Sollte Liams
Schwester etwas mit Tylers Tod zu tun haben? Nein, ganz
bestimmt nicht. Die zwei hatten glücklich ausgesehen – sie hielten
Händchen! Man hielt kein Händchen und brachte seinen Liebsten
zwei Stunden später um die Ecke. Es sei denn, man war ein
Werwolf. Ich dachte dabei wehmütig an den gestrigen Abend und
den Film, der in Liams Rekorder gesteckt hatte. Mein Vater legte
mir das Telefon vor die Nase. »Du rufst jetzt bei der Polizei an
und machst eine Aussage.« Entsetzt schaute ich ihn an. »Spinnst
du?!« Doch mein Vater sah nicht im Geringsten so aus, als würde
er Witze machen. Auffordernd zeigte er auf das Telefon. »Das
kannst du vergessen! Die zwei sind Hand in Hand die Straße
entlanggelaufen. Sie sahen glücklich aus!«
»Emma, sei doch vernünftig … Wenn sie unschuldig ist, wird ihr
schließlich nichts passieren.« Ich schnaubte verärgert.
Er glaubte doch nicht im Ernst, dass Liams Schwester etwas mit
Tylers Tod zu tun hatte? »Wenn du nicht anrufst, tu’ ich es.«
Dann ging mein Vater zurück in den Laden. Grimmig starrte ich
ihm hinterher. Hoffentlich fällt er die Treppe herunter!, dachte ich
zornig. Beruhigend streichelte meine Mutter meinen Unterarm.
»Reg’ dich nicht auf, Spätzchen. Ich finde auch, dass du es sagen
solltest.« Wie konnte sie mir so in den Rücken fallen? Empört
schaute ich ihr in die Augen, die mich liebevoll anblickten. »Wir
überlassen dir die Entscheidung, aber denk doch mal an Tylers
Familie. Wäre es nicht schön für sie zu wissen, dass er seine
letzten Stunden glücklich verbracht hat?« Ah! Das war ja nicht
zum Aushalten. Jetzt kam sie mir auf die Mitleidstour. Meine
Mutter wusste ganz genau, wie sie mich zu etwas bringen konnte.
»Ich möchte Liams Familie nicht in Schwierigkeiten bringen«,
sagte ich kleinlaut. Meine Mutter lächelte mich an. »Das tust du
nicht. Du beschuldigst ja niemanden. Du erzählst nur, was du
gesehen hast. Wäre ich Tylers Mutter, würde ich auch gerne so
viel wie möglich wissen.« Ich seufzte. Sie hatte recht. Gerade, als
ich den Telefonhörer greifen wollte, klingelte es an der Haustür.
Meine Mutter stand auf und öffnete. Ich wollte abwarten, bis der
Besuch wieder weg war. Das Telefongespräch musste ja nicht
jeder mitbekommen. Meine Mutter kam in die Küche und führte
zwei Polizisten hinein. Einen älteren, kleinen Dicken mit grauem
Schnauzbart, den ich als Officer Stanley kannte (er war sozusagen
unser Dorfpolizist) und hinter ihm humpelte ein wesentlich
jüngerer Polizist – »David« – her. Er wurde von Officer Stanley
ständig mit dem Vornamen angesprochen. Ich schätzte ihn auf
Mitte Zwanzig. »Verzeihung Ma’am«, sprach er meine Mutter an.
»Wir ermitteln im Fall Tyler Dawson und wurden damit
beauftragt, seine Klassenkameraden zu befragen, ob ihnen in den
letzten Tagen irgendetwas an Tyler aufgefallen ist.« Meine Mutter
nickte und deutete in meine Richtung. »Da müssen Sie meine
Tochter fragen.« Sie ließ mir immer noch die Wahl. Ich war stolz
auf meine Mutter. Es war also doch nicht verkehrt gewesen, sie
einzuweihen. Meine Mutter reichte den beiden Polizisten eine
Tasse Kaffee und bat sie, Platz zu nehmen. »Danke Ma’am«,
sagte Officer Stanley und wandte sich mir zu. »Hallo Miss. Ich
bin Officer Stanley, aber mich kennst du ja schon.« Er zwinkerte.
»Und das ist Officer Dewey. Ist dir gestern irgendetwas an Tyler
aufgefallen?« Sollte ich die Wahrheit sagen? Ich schaute in das
aufmunternde Gesicht meiner Mutter, welches mich sofort an
unser Gespräch von vorhin erinnerte. Tylers Eltern wären
bestimmt froh zu wissen, dass er seine letzten Stunden glücklich
verbracht hatte. Sie hatte recht. Ich sollte es sagen. »Ich…
ähm…«, stammelte ich los, da ich nicht genau wusste, wie ich
mich ausdrücken sollte. Außerdem verunsicherte mich der
stechende Blick von »David«. »Ich … habe ihn gesehen. Es war
…« – wie viel Uhr war es denn überhaupt? – »Es wurde gerade
dunkel, da hab’ ich ihn zusammen mit Liams Schwester gesehen.«
Officer Stanley hob die Augenbrauen und David schaute mich
immer noch durchdringend an. Seine Miene war unergründlich.
»Und? Konntest du noch etwas beobachten?« Wie sich das
anhörte. Als würde ich Leuten hinterherschnüffeln. »Nein, das
war alles.« Der Officer nickte gutmütig.
Weitere Kostenlose Bücher