Moonlit Nights
ein, mich hier so lange alleine zu lassen? Ohne sich
zu melden, mir zu sagen, ob es ihm gut ging oder wenigstens mal
ein Lebenszeichen von sich zu geben? Immerhin war er
angeschossen worden und ich war seine Freundin! Ich hatte ein
Recht darauf, es zu wissen. Schlechtgelaunt setzte ich mich an
meinen Platz und packte mein Schulzeug aus. Was das Fass auch
noch zum Überlaufen brachte, war die Tatsache, dass heute die
Beerdigung von Tyler stattfand und wir mit der Klasse vereinbart
hatten, gemeinsam dahin zu gehen. Das hieß, die Klasse hatte
abgestimmt und Blöd-Emma unterlag dem Gruppenzwang.
Murrend warf ich meine Schulsachen auf den Tisch und blätterte
in meinem Heft. Edwin war wie immer komplett in Schwarz
gekleidet und hatte seine Augen schwarz umrandet. Wenn ich es
nicht besser gewusst hätte, würde ich sagen, er hatte sich extra
schick gemacht. Scheinbar freute er sich auf die Beerdigung.
Edwin war schon echt krank. Wie konnte man an so etwas
Vergnügen finden? Aber was interessierte mich Edwin. Ich dachte
weiter über Liam nach. Heute Nachmittag, nach der Beerdigung,
würde ich bei ihm vorbeigehen. Irgendein Vorwand würde mir
schon einfallen. Wobei, brauchte man als Freundin überhaupt
einen Vorwand, um seinen Freund zu besuchen? Eigentlich doch
nicht … Wie auch immer, ich würde sagen, ich würde einen
Krankenbesuch machen. Oder ihm den Stoff vorbeibringen, den
er in der Woche verpasst hatte. Ja, das war eine sehr gute Idee.
Ein Vorwand, den selbst Fingerbrecher-Florence akzeptieren
musste.
Die Schule war zu Ende und wir gingen in der Gruppe zum
Friedhof hinunter. Ich hatte mir eine schwarze Bluse und eine
dunkelblaue Jeans angezogen. Ich hoffte, es würde keinem
auffallen, dass die Jeans nur dunkelblau war und nicht schwarz,
doch ich hatte nichts anderes. Wie gesagt – demnächst würde ich
einkaufen fahren. Kyle hatte sich einen schwarzen Anzug mit
weißem Hemd und Krawatte anzogen, und obwohl mir so was
nicht gut über die Lippen kam, musste ich zugeben, dass er relativ
schick darin aussah. Wie ein Geschäftsmann. In seinem Arm, den
er gentlemanmäßig darreichte, hatte sich Amilia eingehakt. Sie
posierte im kurzen Schwarzen, hatte schwarze, hochhackige
Pumps dazu kombiniert und eine feine schwarze Strumpfhose an,
die ihre Beine verführerisch ebenmäßig aussehen ließ. Obwohl ich
diese Woche nicht unter Liams Schutz stand, waren Amilia und
Kyle freundlich zu mir. Kyle überschwänglich und Amilia mit
einem wenns-denn-sein-muss- Beigeschmack. Ich hätte nie
gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber Gyle-Kyle war nett
zu mir. Anders konnte man es nicht ausdrücken. Gut,
wahrscheinlich hatte Kyle Angst, dass Liam ihm anderenfalls die
Hölle heiß machen würde (nachdem ich den Text im Internet
gelesen hatte, war mir aufgefallen, dass einige Sachen doch recht
gut auf Liam passten, beispielsweise seine herrische Art, und dass
er leicht reizbar war, wenn etwas nicht nach seiner Nase ging),
aber das war ja egal. Kyle bemühte sich, und das Ergebnis war
zumindest besser, als das von Amilia. Die Trauerrede hatte bereits
angefangen, als wir uns in die hinteren Reihen der Kirche setzten.
Ich hatte das Gefühl, der Pfarrer hörte gar nicht mehr auf zu
reden. Doch ich hütete mich, irgendein Geräusch von mir zu
geben. So viel Anstand besaß ich. In der ersten Reihe sah ich
Tylers Familie sitzen. Seine Mutter weinte bitterlich und auch
seinem Vater, der ihr zum Gefallen wohl versuchte stark zu
bleiben, rollte eine Träne nach der anderen aus den
Augenwinkeln. Die Armen … Sie taten mir schrecklich leid! Ob
sie Tylers Leiche noch einmal gesehen hatten? Ich stellte es mir
furchtbar vor, sein Kind zerfleischt auf einer Metallbahre liegen
zu sehen, mit einem Zettelchen am Zeh. Über Kyle hingegen
wunderte ich mich erneut. Er saß völlig teilnahmslos in der Ecke
und schaute Amilia lüstern auf die Beine, die sie grazil
übereinandergeschlagen hatte. Dass er nicht sabberte, war auch
alles. Ich hatte immer gedacht, Tyler und Kyle waren die besten
Freunde. Aber das konnte nicht sein. Ich musste mich geirrt
haben. Seinem Freund würde man doch schließlich hinterher
trauern und nicht bei der Rede des Pfarrers dabeisitzen, als würde
einen das alles nichts angehen. Kyle schien absolut gefühlskalt zu
sein.
Der Pfarrer sprach die Schlussworte und trug die Urne – Tylers
Familie hatte ihn verbrennen lassen – zum Grab. Ich vermutete,
dass mit
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