Moonshadow - Das Schwert des grauen Lichts
verbliebene Kraft. Dann sprang er in eine Ecke des Stalls, die der Straße gegenüberlag. Auf der gegenüberliegenden Seite der Tür neben dem Fenster des Pferdes, dort, wo die undichte Decke die verrottende Wand traf, griff er nach den Dachsparren und spreizte sich aus wie ein großes Insekt.
Die Tür öffnete sich quietschend. Katsu spähte erst um den Türrahmen, bevor er eintrat. Er klopfte dem Pferd freundschaftlich die Flanke und sein Blick huschte durch den Stall. Das Pferd zog sei nen Kopf nach innen und mit einem freundlichen Schnauben wandte es ihn seinem Besucher zu. Moon, der schon Mühe hatte, seinen Griff nicht zu lockern, sah von hinten auf Katsu hinab.
Anders als ein Shinobi begann dieser Mann seine Durchsuchung des Raums nicht, indem er nach oben sah und sich einmal herumdrehte. Detektiv oder nicht, er war wie die meisten anderen Leute: Er sah überhaupt kaum nach oben. Dieser Knabe war es nicht gewohnt, mit Spionen umzugehen.
Schulzeit, Katsu!
Dann wurde sein Hals plötzlich schwach. Seine letzten beiden Sichtverschmelzungen, mit dem Karpfen und der Katze, die so rasch aufeinandergefolgt waren, hatten ihn schon zuviel Kraft gekostet. Plötzlich konnte Moon spüren, wie seine unverzichtbare Qi-Energie, seine Lebenskraft, verebbte. Mach schnell, Detektiv, dachte er knapp. Gib auf und geh, oder sieh nach oben, dann werde ich dich umbringen.
Egal wie, mach schnell, bitte, bevor ich ohnmächtig werde und zu deinen Füßen lande.
Katsu nahm das eine Ende seines Stocks in beide Hände und stocherte sorgfältig in den dichteren Heuschichten herum. Moonshadows Augenlider flackerten. Eine dunkle Welle überrollte ihn. Er zwang sich, die Augen weit zu öffnen. Seine linke Schulter pochte jetzt schmerzhaft.
In jedem Jahr seines Trainings hatte er mit einer boh nen förmigen Stroh puppe ge arbeitet, die im mer exakt das Gleiche gewogen hatte wie er. Er hatte sie fünfzig Mal am Tag hochgehoben und jetzt konnte er seinen Körper an al len möglichen Decken mehr als eine Stunde halten.
Aber nicht an diesem Morgen. Ein Kälteschauer
rollte über Moon, als ihm das klar wurde. In ungefähr dreißig Sekunden würden ihm, egal ob er hier oben hing oder dort unten läge, die Sinne schwinden.
Nachtfalke kroch tief gebeugt durch die schmale Gasse auf der Straße dem Stall gegenüber.
Der große Mann schob die Stalltür mit seinem Stock zu, als er nach draußen kam. Ein müde aussehendes Pferd steckte seinen Kopf durch ein Loch in der Wand und der Mann drehte sich noch einmal um und tätschelte ihm zum Abschied das Maul.
Sie blieb im Schatten und beobachtete, wie der Schnüffler sich streckte, bevor er die Straße hinuntertappte. Es schien, seine Durchsuchung des Armenviertels von Fushimi war beendet. Wenn ja, dann gab es hier eine Unstimmigkeit. Dieser Sucher war offensichtlich mit leeren Händen gegangen, aber Nachtfalke konnte den jungen Spion in diesem Stall spüren. Sicher war er derjenige, hinter dem der Mann hergewesen war.
Was also ging hier vor?
Auf dem Weg über die Stra ße blickte sie der grobschlächtigen Gestalt, die in der Ferne verschwand, heimlich nach. Verkleidet als Weberlehrling in einem graubraunen Hanfkimono - einem gestohlenen, natürlich -, konn te Nacht falke, ohne Aufsehen zu
erregen, die Straßen benutzen - ohne das Aufsehen normaler Bürger zu erregen wenigstens, so viel wusste sie. Es wa ren Silberwolfs Spezialisten, Profis wie sie, vor denen sie sich in Acht nehmen musste. Auch sie änderten immer wieder ihre äußere Erscheinung. Ihre Augen bewegten sich unruhig hin und her. Dieser buck lige Bauer, ei ner von die sen kräf tigen jungen Brauereiarbeitern, jeder konnte ein Shinobi in den Diensten des Kriegsherrn von Fushimi sein. Sie blieb vor der Stalltür stehen. Aber ihre außergewöhnlichen sensorischen Kräfte sagten ihr, dass hier nur jemand von ihrer eigenen Art war. Er.
Er war dort drinnen, das konnte sie spüren. Eine deutliche, starke Ahnung. Wenn sie nur einen Kampf mit ihm vermeiden konnte … und nah genug an ihn he rankam, um ihr be sonde res Ta lent zu be nut zen. Dieser Junge war gut, er war sogar brillant. Nachtfalke lächelte. Aber das wa ren auch die letzten drei Krieger gewesen, an denen sie ihre einzigartige Kunst ausprobiert hatte. Bevor der Tag zu Ende ging, befänden sich diese Pläne in ihrem Besitz.
Als sie nach der klapp rigen Tür griff, kam von der anderen Seite ein dumpfes Plumpsen. Sie kannte dieses Geräusch, sie hatte es selbst einmal erzeugt.
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