Moor
anderen Mädchen unter Umständen lieber haben könnte. Sie hat die Schultern gezuckt und gesagt: Dann mach ich eh Schluss. Mit Hannes, nickte er zufrieden, und sie: Nein, mit meinem Leben.
Es stimmt so nicht ganz, sagt sie und schaut dich schuldbewusst an. Sie habe da etwas ausgelassen. Sie nimmt deine Hand und legt sie dir auf die Brust, wo dein Herz anhämmert gegen den Drang, ihr zu sagen, was du damals in deinem Versteck wirklich gesehen hast. Sie packt ihre Hand noch dazu, schwöre es, flüstert sie, dass du es niemandem verrätst! Nie dürfe ihre Mutter davon erfahren: wie das Mofa in einer schlammigen Kuhle hinten ausgebrochen ist und sie vom Sattel geschleudert wurde. Du hältst den Atem an,lässt dann die Luft mit dem knackenden und splitternden Wort herausströmen: hge-hbrochen? Tatsächlich glaubst du nun wieder das Geräusch zu hören, als Hannes sie an sich heranzog und du raus aus dem Unterholz und nach Hause gerannt bist. Sie hebt bedeutsam die Schultern, ihre Stimme klingt nun fast drohend, noch immer tue ihr die Stelle weh, und sie pflückt mit der Linken den Klumpen eurer ineinander verhakten Finger von deiner Brust und schiebt ihn auf die unsichtbare Wunde, und damit auch wirklich nie jemand erfährt, dass Tanja dich in dem Moment, als Hannes sie über den Baumstumpf bog, am gegenüberliegenden Ufer bereits entdeckt hatte, lege auch ich noch meine kalte Hand auf ihr Herz und dir die Lüge dieses Nachmittags für alle Zeit in den Mund. Es poltert im Schnürboden. Tanja schreckt auf. Wo ist eigentlich Ronja?, ruft sie.
Alle ab.
◆◆
Auch deine Mutter ergreift vor dem Spektakel die Flucht. Sie fährt von ihrem einsamen Logenplatz auf der Parkbank des Altonaer Balkons hoch und eilt im Laufschritt zurück. Erst da spürt sie das Pochen im Rücken, Stiche zwischen den Schultern, die sie durch die Straßen vorantreiben und gleichzeitig drängen, an der nächsten Ecke endgültig stehen zu bleiben, von nun an keinen Mucks mehr zu tun. Wieder dieses altbekannte Gefühl, gegen einen Widerstand anzulaufen, der sie, sobald sie innehält, an Orte zurückkatapultieren würde, von denen sie sich in jahrelangen Kämpfen befreit hatte, überwältigt von einem Schmerz, der nur zu ertragen ist, wenn sie sich seiner Gewalt ergibt.
So hat sie alle Stationen hinter sich gelassen: das Mädchenheim, das Modehaus, den Heidedamm, die Nervenheilanstalt Ochsenzoll, ein Name, mit dem schon damals die Diakonissen den widerspenstigen Mädchen drohten; er klang nach Pferchen, Peitschenhieben und noch strengerem Drill. Dabei hatte sie ausgerechnet in der Psychiatrie für Momente die Erleichterung gefunden, fast eine Art Glück, an einem Ort angekommen zu sein, wo sie zwar nicht bleiben wollte, der sie aber bleiben ließ. Ihre Stimmungsschwankungen wurden schwächer, diese anhaltende Bewegung aus der Starre heraus in einen Sturz, der an seinem äußersten Punkt wieder zurück in den Stillstand mündet, pendelte aus. Ausgerechnet in der Stille und Leere der nach Chlorreiniger riechenden Flure hatte sie nicht mehr den Zwang verspürt, malen zu müssen, und die Medikamente, die diesen Stachel kappten, mit Dankbarkeit und Demut geschluckt, zweimal täglich ein Plastiktöpfchen voll der Gnade einer nahezu allumfassenden Gleichmütigkeit, und die Krankenkasse zahlte, wo bekam man das schon?
Sogar ihren fetten Arsch hatte sie dafür in Kauf genommen. Nachdem der junge Stationsarzt, einer mit breiten Schultern und sanfter, leidenschaftsloser, sozusagen gnädiger Stimme, sich gegen ihren Augenaufschlag immun gezeigt hatte, war sie bereitwillig und am Ende sogar mit grimmiger Lust auseinandergequollen wie ein Hefeteig, froh, dass man ihr auch diesen letzten Dorn gezogen hatte. In Ochsenzoll war sie für ein paar Monate zur Ruhe gekommen. Sie streckte sich aufs Bett, lauschte in ihren sich stetig ausdehnenden Körper – und hörte nichts. Die Neuroleptika hatten den Stoffwechsel auf ein lebenserhaltendes Minimum gedrosselt und alles, was noch ziepte und piekste, in dämpfende Polster gepackt. Erst das Elektrokrampfgerät, das man ihr nach eindringlichen Gesprächen dreimal wöchentlich an die Schläfen kabelte, brachte das Pendel wieder in Schwingung. Oderwar es doch der unerwartete Besuch von Daniel Röcker gewesen?
Sie war weitergerannt; zurück nach Fenndorf, später dann wieder Hamburg, die Wohngemeinschaft in der Susannenstraße, der Pulverteich in St. Georg, wo sie es immerhin fast acht Jahre aushielt. Auch die Nutten waren
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