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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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umgezogen, vertrieben von den Sanierungsmaßnahmen in St. Pauli, drückten sie sich nun nachts in ihrer Straße herum. Ein Jahr Berlin, kurz nach dem Mauerfall, nach Monaten begriff sie, dass sie nur dorthin war, um in der Nähe ihres Jungen zu sein. Ein von ihr mehr oder weniger erzwungenes Wiedersehen – nur zwei Stunden in einem Café –, dann ihre Flucht zurück nach Hamburg; wieder Ochsenzoll, fast ein halbes Jahr, dieses Mal ließ man sie bleiben. Der Stationsarzt war längst weg, die modernen Medikamente und das verordnete Fitnessprogramm hielten auch ihre Mitpatientinnen jenseits der Wechseljahre einigermaßen in Form. Man schickte sie in die Kunsttherapie, setzte im tiefenpsychologischen Gespräch ganz auf die Aussöhnung mit dem inneren Kind und empfahl sich nach fünf Monaten freundlich; man könne nun nichts mehr für sie tun.
    Sie zog nach Eimsbüttel, wo sie mit Kathrin, einer Lesbe, wohnte, unweit des ehemaligen Mädchenheims, das jetzt ein Sterbehospiz ist, modernisiert und, wie sie gehört hat, mit Palliativstation. Dorthin, denkt sie, wird sie einmal zurückkehren. Die Kreise sind noch immer nicht zur Linie, nur weiter geworden, spiralförmig drehen sie sich aus der Rückennarbe heraus und führen am Ende aller Windungen wieder an den Ausgangspunkt zurück, zwischen die Schulterblätter und in ihren Körper, der von allen Orten der einzige ist, der selbst nach ihren wiederholten Treuebrüchenhartnäckig bei ihr bleibt, obwohl, denkt sie, es nun an der Zeit wäre, es tatsächlich hinter sich zu bringen, als Frau Ende fünfzig mit Würde den Körper zu verlassen, diese flimsige Kiste, bevor es zu spät ist, und sie reißt die Tür auf und stolpert ins Haus.
    Brandgeruch schlägt ihr entgegen, bedrohlicher als jemals zuvor. Die Party in der Wohngemeinschaft scheint davon unbehelligt, auf halber Höhe der Treppe lungern junge Leute und prosten sich zu. Sie nimmt zwei Stufen auf einmal, vor ihrer Wohnungstür klammert sie sich keuchend an den Handlauf. Der Rückenschmerz krümmt sie übers Geländer, für einen Moment scheint ihr keine weitere Bewegung mehr möglich. Sie spürt sich rutschen, will ihren Körper, beklatscht von den Jungen und Schönen, am Boden zerschellen sehen und hat sich doch keinen Millimeter aus ihrer Verklammerung gelöst. Zu Bruch fallen ja, verbrennen nein; den Feuertod oder, schlimmer noch, ein Überleben mit einem Gesicht wie aus dem Horrorfilm hat sie schon immer gefürchtet; sie will es entweder sanft im Schlaf oder den kurzen und schmerzlosen Sturz.
    Aus der Pfanne schlagen bereits die Flammen, genauer gesagt aus dem Küchenhandtuch, das die Schäfer noch hineingeworfen haben muss, bevor sie ihr Abendessen endgültig vergaß. Der Wasserstrahl zischt auf den glosenden Klumpatsch, verdampft zu giftigem Rauch. Warum lässt sie die Alte nicht einfach ersticken? An deren Stelle, in diesem Alter, wäre sie dankbar für eine jüngere Nachbarin, die aus Erbarmen das Spiegelei brennen lässt.
    Frau Schäfer liegt schon sterbensmüde in ihrem Sessel vor dem Apparat, wo ein Schlagerstar aus dem Wunschkonzertseine Schnulze singt: Du brauchst dich doch bloß umzusehen / Berge, die bis zum Himmel gehen … Sie reißt den Stecker aus der Stromdose, die Röhre erlischt mit einem Lichtknall, knistert nach. Das Zimmer jetzt grabkammerdunkel, in den Ecken kauern die Möbel wie Unterweltstiere, zum Fenster herein flackert die ewige Nacht, das weiße Rauschen.
    Die Alte seufzt und träumt von Florian Silbereisen, dem jauchzenden Engel und Glück aller einsamen Witwen, dem Julius, denkt sie, sogar ein wenig ähnelt. Sie sieht ihre blaugeäderte Hand, die Augenlider, Mundwinkel, Altersflecken, das ganze Aufgebahrte und Abholbereite im Takt der Melodie zucken, die noch immer in ihrem Kopf nachhallt und sich als Ohrwurm tief und tiefer bohrt, auch deiner Mutter, Dion, frohlocken schon die blonden Heerscharen, also, lass Gnade walten!
    Du aber schreibst ihr Zerberus und Gorgonennatter ins Hirn. Sie glotzen aus den Löchern, kriechen heran, Schatten wie Zungen schnellen aus den Bauten, wickeln sich ihr um die Waden. Sie taumelt. Die dritte Lexotax war eine zu viel. Das Zimmer scheint ihr immer kleiner zu werden, Wände wachsen ins Innere, die Decke wölbt sich herab; obwohl die Wohnung im dritten Stock liegt, fühlt sie sich plötzlich wie in einer Höhle, tief unter der Erde, jenseits der Zeit; auf den Gemälden ist der mythische Tartaros von einer ehernen Mauer geschützt. Eiche, knarrt die

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