Moor
Krankenschwester der Rentnerin, dort die Rabenmutter aus dem Moor, die den Sohn abserviert hat. In ihrem Kopf schallt noch immer das böse Wort aus dem Buch ihres Jungen, und Frau Schäfer winselt und weint das Echo zu dem Schimpf, der vielleicht noch ihren Grabstein verunstalten wird, abgewichst , das Wort, das bleibt.
Ja, muss sie zugeben, es ist eben passiert. Im Nachhinein hat sie sich so sehr dafür geschämt, dass sie dir wochenlang nicht mehr in die Augen blicken konnte. Letztendlich war das sogar der Grund, warum sie ein paar Wochen später die Überdosis geschluckt hat; du solltest sehen, dass es auch ihr mit der Sache schlecht ging.
Sie war, ohne anzuklopfen, ins Badezimmer geplatzt, na und? Was hattest du schon vor ihr zu verbergen? Deinen Pimmel, du selbst hast es so geschrieben, hat sie bereits in der Hand gehabt, als er noch eine Larve war. Warum plötzlich so zimperlich?, soll sie gesagt haben, und mehr noch: In deinem Buch musste sie lesen, wie sie anschließend, wie zum Beweis ihrer mütterlichen Macht, das Klopapier abrollte, um den Beweis deiner Liebe und Ergebenheit, auf den sie aus war, schnell wegzuwischen und fort damit ins Klo.
Alles Unsinn! In Wahrheit sind ihr, kaum dass sie seine Hand an sich herangezogen hatte, schon die Tränen in die Augen geschossen. Sie weiß es noch genau: wie sie ihn an sich gedrückt und seinen Arm, damit er sie für einen Augenblick festhält, um ihren Hals gelegt hat. Gezwängt, heißt es im Buch, wobei sie etwas gesagt haben soll wie: Wenigstens du könntest ein bisschen nett zu deiner Mutter sein. Meinetwegen, denkt sie, und dass ihr Vorwurf sogar gerechtfertigt war, hatte er ihr doch seit Wochen die kalte Schulter gezeigt. Aber dass sie seine Hand mit Gewalt auf ihrem Körper herumgeschoben habe, zuletzt unter das Kleid, niemals! So habe sie sich ihm dargeboten, verunglimpft er sie in seinem Buch, und Frau Schäfer, gekitzelt vom Lappen, quiekt auf.
Sie hat Mühe, ihre Faust zwischen den Schenkeln hervorzuziehen, die Alte, scheint ihr, strotzt plötzlich vor Kraft. Der Duschkopf schnalzt hoch, eine Fontäne spritzt ins Bad. Sie zwingt die Flüchtende in die Wanne zurück. Unter Wasser wirken die Augen noch starrer und trüber, nun gänzlich weggetreten in die andere, die bessere, von Silbereisen besungene Welt, doch das Gesicht, so panisch und aufgelöst in den Strudeln, scheint wieder lebendig, fast jung. Der Dutt löst sich auf, graue Strähnen durchziehen das Wasser. Blasen steigen vom Mund auf, Melodiefetzen darin, helle, glockenklare Stimmen, von blonden Engeln mit gestähltem Bizeps und in blauer Ballonseide, zuckend über den Harfen: Ich glaube an Gott, ich glaub daran / Ich bin ein Teil von seinem Plan …
Sie wollte das nicht. Es war wie ein Zwang. Eine unvermeidbare Bewegung, ein Reflex. Plötzlich das Gefühl, dass sie nur dort noch würde weiterleben können, in dieser engsten Berührung mit ihrem Jungen. Wie sehr sie ihn in diesem Moment liebte. Wirklich geliebt!, ruft sie ins gurgelnde Wasser hinab.
Also sei sie wie immer mit ihrem Mund gekommen. Mit ihrem Kussmaul, heißt es in deinem Buch, als könnte sie nur auf diese Art dem Leben, für das sie doch nichts als Ekel und Gleichgültigkeit empfand, einen Höhepunkt abringen, dir den kleinen Spritzer der Liebe herauspressen, die ihr alle anderen bisher verweigert hatten, trotz ihrer Gerissenheit und Listigkeit, schreibst du, trotz Hurenherz und Mutterwitz.
Sie springt zurück und taumelt aus dem Bad, das Rauschen des Duschkopfs hält an, ist nun das einzige Geräusch in ihrem Kopf, ein allgegenwärtiger Hall, wie von einem fernen Meer. Das Wohnzimmer erscheint ihr kleiner als zuvor, als wären die Möbel nicht mehr ganz an ihren Platz zurückgekehrt. Das Schrankungetüm klafft mit offener Klappe, kein Maul, doch die weißen Porzellanvasen, die darin blinken, erinnern tatsächlich ein wenig an stumpfe Zähne. Im Lampenschein entpuppt sich der Medusenkopf in der Ecke als der Staubsauger mit verknotetem Schlauch. Stumm glotzt der Fernseher, Silbereisen hat ausfrohlockt, ist abgefeiert, fickt jetzt die Engel. Draußen kriecht ohne Laut der Scheinwerferkegel eines Autos über die Fassade. In einem der gegenüberliegenden Fenster flackert es blau. Sie sehnt sich nach einer Zigarette; binnen Sekunden wird der Suchtdruck zur Folter. Fast zehn Jahre lang hat sie es geschafft, die Finger von den Kippen zu lassen, dann ein paar Seiten aus den Erinnerungen ihres Sohnes, und jetzt das. Sie will Nikotin,
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