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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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die roten, von Goldfäden durchwirkten Teppiche auf dem Parkett und an den sich auf dem Holz spiegelnden Schein ebenso roter und goldener Lämpchen, die ihr gefielen, weil sie ein warmes Licht abstrahlten, das auf den Stoffen der Herrenanzüge glänzte und alles edel und teuer erscheinen ließ. Die akkurat gefalteten Hemden in den Regalen, die Hosen mit ihren Bügelfalten und die steifen Aufschläge der Fräcke und Jacketts bildeten einen Kontrast zu den verzierten Spiegeln, den Sitzecken mit Plüschkissen, dem Kitsch und Plunder der Schaufensterdekoration und den gerafften Stores vor den Umkleidekabinen, wo mit Bändern drapierte Schlitze ihren Blick fingen, aber nicht eindringen ließen, und sich der Stoff leicht im Luftzug bauschte, als irgendwo im Innern des Hauses eine Tür schlug und leise das Gelächter einer Frau aus den Hinterräumen drang.
    Erst jetzt sah sie die hagere Verkäuferin, die rauchend hinter einem großen Mahagonitisch saß, auf dem nichts stand, keine Kasse, keine Stellagen. Was sie dort herumstehe, rief die Fremde mit einem harten, raspelnden Akzent, der ihr russisch erschien, obwohl sie noch nie einen Russen hatte sprechen hören. Die Frau, vermutlich die Besitzerin der Boutique, hob ihre üppig beringte Hand und winkte sie heran, in die Tiefe des Raumes, wo die Herrenausstatterin in Rot und Gold gekleidet im Sessel lehnte, so sehr eins mit den Farben ihres Modehauses, dass man nicht hätte sagen können, wer zuerst da gewesen war, der Laden oder seine Inhaberin, wie überhaupt in jedem Detail ein perfektes und kunstvolles, ja fast malerisches Mit- und Gegeneinander von Strenge und Ornament, Verschwendung und Zurückhaltung, Zeigen und Verstecken herrschte, das ihr, Marga, jetzt wie eines der farbenprächtigen und vielschichtigen Bilder erschien, die einmal unter ihrer Hand entstehen sollten, später, in ihrer Zukunft als Künstlerin, von der sie in ihren Jugendjahren zwischen den schimmelfleckigen Kalkwänden der Schlaf- und Unterrichtssäle des Heims oft geträumt hatte, und als sie unter dem prüfenden Blick der stark parfümierten, mit Perlen behängten Frau so etwas wie einen Personalbogen ausfüllen sollte, den ihr die neue Chefin schließlich ungeduldig aus der Hand nahm und überflog, wobei sie, morsche, vom Rauchen vergilbte Zähne bleckend, plötzlich auflachte und sagte: Du heißt doch sicherlich Marga, nicht Magra, hatte das Mädchen, das deine Mutter damals war, gespürt, dass es hier richtig ist.
    Sie hat dann doch noch eine Nachricht an dich zustande gebracht. Unter die knappen Zeilen kritzelte sie ein großes M., das, egal, wie herum sie es dreht, immer gleich aussiehtund so etwas wie ihre Unterschrift geworden ist, auf die sich ihre Schreibtätigkeit heute beschränkt, denn Offizielles und Amtliches drückt sie zur Erledigung dir in die Hand, zusammen mit einem Fünfzig-Pfennig-Stück. Sie malte um den Buchstaben ein Herz, eine Anstellung als Sekretärin, dachte sie und warf den Stift hin, kommt schon mal nicht in Frage. Auf dem Weg zum Wagen ging sie noch einmal in die Scheune und zog die Nesselbahn vom Haufen mit den verworfenen Arbeiten. Der schwarze Zacken gefiel ihr jetzt, etwas Gewalttätiges ging von ihm aus, gleichzeitig wirkte er wie ein geschundener Körper, halb tot. Darunter, im leeren Weiß, erschien ihr ein Gesicht, bleich, fast bläulich, verzittert unter durchlässigen Pinselstrichen und verwischten Wirbeln, wie tief im Wasser; vielleicht, dachte sie und pinnte das Bild zurück an die Arbeitswand, lässt sich daraus noch etwas machen.
    Der Motor stotterte, bitte nicht verrecken jetzt, beschwor sie die Karre, wenn ich das Bild verkaufe, kriegst du Öl und Zündkerzen und einen neuen Keilriemen und alles, was du brauchst, und tatsächlich: Der Wagen stöhnte und sprang an. Sie schnippte die Zigarette aus dem Fenster in die Rosenstöcke von Ilse Bloch und trat vorm Schulgebäude, an dem sie schnell vorüber sein wollte, aufs Gas. Es war kurz vor David Voss’ kämpferischem Schule-aus! -Ruf, der täglich die Bolz- und Kampfspiele auf der Dorfwiese einleitete, noch zehn Minuten bis zum Ende der Mathematikstunde, als du plötzlich das vertraute Geräusch gehört und den Blick von der Algebra gehoben hast. Ein Schatten schoss zum Fenster herein, das Trösch, der Lehrer, geöffnet hatte, weil David mit einem Deodorantzerstäuber auf seinen Banknachbarn Thorsten Hinrich zu zielen begonnen hatte, der angeblichnach Schweiß stank. Es war eine Blutrote Heidelibelle, die

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