Moor
Dorfkrug, die das Erinnerte in die eine oder die andere Richtung verzerren. In allen Varianten ist die Schuldige letztendlich deine Mutter, die seine Liebe oder das Leben, das er ihr bot, verschmähte, in jeder Erzählung bricht, einige Monate nach der Hochzeit und nach einer kurzen Phase sogenannten Glücks, der Gewittersturm los, in der Sommernacht, als er vom Teich nicht mehr zurückgekommen ist. Er wollte mit seinem Bruder die Planen über den Torfsoden verzurren, die abfuhrbereit auf der Wiese lagerten, behaupten jene, die Karl Lamberts Version unterstützen. Der eifersüchtige Schweinezüchter habe die Gelegenheit genutzt, ihm, dem kleinen Bruder und Weiberhelden, einen Dämpfer zu verpassen, halten die wenigen anderen dagegen, denen der einflussreiche Großbauer mit seiner Land- und Geldgier schon immer ein Dorn im Auge war. Einig aber sind sich alle, dass deine Mutter ihn mit ihrer Kaltherzigkeit bereits zermürbt hatte. Lass doch, soll sie ihn angeblafft haben, als er sich aufmachte, die wertvollen Soden vor dem Unwetter zu bergen, es sei doch bloß Dreck. Von dem Dreck , faucht er in der Variante der Lambert-Gegner zurück, leben wir aber, da hat sie ihn angeblich gepackt und gerufen: Ihr lebt davon, nicht ich!, doch er stieß sie weg und rannte zum Hof des Bruders, in allen Geschichten zucken ab dieser Stelle Blitze im Himmel über dem Teich, wo dein Vater, sagen sie, von einem herabstürzenden Erlenast ins Wasser gerissen wurde, falsch, entgegnen die anderen, zwar sei der Ast vom Sturm abgespalten und herabgeschleudert worden, aber ins Wasser befördert habe ihn die Hand des Schweinebauern.
Unverhofft ist er aus dem Leben geschieden, hatte der Pfarrer die auseinanderstrebenden Meinungen auf der Beerdigung wieder zusammengeführt, und ein Schluchzen war aus der ersten Reihe aufgestiegen, wo Marianne Lambert denSchleier tiefer ins Gesicht zog. Als deine Mutter die Schippe, mit der sie einen Torfklumpen ins Grab hinabwarf, an Karl Lambert weiterreichte, zitterte dessen Faust, vor Gram, sagen die einen, noch immer im Zorn, die anderen, deine Mutter aber, heißt es, hochschwanger und Erbin eines beträchtlichen, wenn auch fruchtlosen Streifens Land, habe sich rasch von der Begräbnisstätte abgewandt und schon am nächsten Tag den Bus nach Hamburg genommen.
Von ihrer Trauer drangen, wenn überhaupt, nur die dumpfen Geräusche der Stadt zu dir herab in die Bauchhöhle, Bruchstücke von fremdartigen Lauten, die du heute freilich nicht mehr erinnerst, aber doch manchmal im Traum zu hören glaubst: das Zischen von Bustüren, Stimmengewirr und Verkehrsdröhnen in den Straßen, durch die sie schlenderte, hinein in die Boutiquen, wo Türglocken bimmelten und Verkäuferinnen säuselten, und du spürst die plötzliche Druckveränderung um dich herum, als das schmalgeschnittene Kleid oder Mieder ihren Unterleib zusammendrückt und dich noch tiefer in die Enge des bildlosen Traumes schnürt, in dem du dich wälzt, ein schweres, auswegloses Dunkel mit ihrer Stimme von weit oben oder draußen, fern und vergurgelt wie durch Wasser hindurch, da schlagt ihr in euren Betten fast gleichzeitig die Augen auf und lauscht hinüber zum anderen, von Zimmer zu Zimmer in die Stille der Nacht, hinaus zu mir.
Bei der Erinnerung an den Traum, aus dem sie am Morgen hochfuhr, erschaudert sie wieder. Sie hatte ihn schon fast vergessen, doch hier, auf der Elbbrücke im Stau, wo die Zeit sich dehnt, durchzucken sie erneut die Bilder, als sie dich träumend in ihrem Bauch noch einmal mit in die Stadt genommen hat, nicht wie damals als das ungeborene Menschlein, nein, den Dreizehnjährigen, dem die Arme und Beine in die Länge schießen, wie sich auch an anderen Stellen deines Körpers bereits der Mann zeigt, der in diesem Traum, eher einem Alb, mitten bei der Arbeit – sie war, erinnert sie sich, mit Kaltenbronn beschäftigt gewesen – aus ihr herauszudrängen begann, so dass sie erschrocken hingelangt, dein nasses Gesicht gespürt und dir die Hand auf den Mund gepresst hat, damit du nicht schreist, jetzt, da du plötzlich sehen würdest, was sie ein Leben lang vor dir verborgen hat.
An dieser Stelle ist sie aufgewacht und hat in das Beben ihres Körpers gehorcht, das nur langsam verebbte. Noch immer spürt sie das Unbehagen, die Scham, die von der Nacht geblieben ist, wie ein Hall, der sie nun wieder einholt, als wäre da jemand, der heimlich ihre Gedanken liest und dir von Hamburg nach Fenndorf, auf hundert Kilometer Entfernung,
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