Moor
jetzt über deinen Scheitel hinwegschnitt, ein besonders großes, schillerndes Exemplar, das sich beim Beuteflug ins Klassenzimmer verirrt haben musste. Die Köpfe klappten hin und her, jemand rief: Fliegeralarm!, und warf einen Radiergummi nach dem Insekt. Trösch packte das Klassenbuch und wedelte damit durch die Luft. Die Schüler rollten ihre Hefte zu Gewehrläufen zusammen, erklommen die Bänke und ballerten los. Die Libelle zackte panisch durch den Mittelgang. Hinrich krachte vom Tisch, Elke Niedeck stach ihre Banknachbarin mit dem Lineal nieder, und David Voss feuerte aus der Giftgasdose. Nur Tanja Deichsen saß still und mit zuckenden Mundwinkeln auf ihrem Platz. Irgendwann streckte sie einen Arm in die Luft, doch nicht angriffslustig, eher, als wollte sie dem Tier anbieten, auf ihrer Hand zu landen. Sie schaute dabei zu dir, lachte auf und zeigte die spitzen, gräulich verfärbten Zähne. Dein Blick irrte umher, fand schließlich Halt im Fenster, draußen am Horizont der Ebene, bei mir. Als die Libelle endlich den Weg zurück ins Freie fand und das Weite suchte, war dir, als hättest du etwas, das eben noch ganz dir gehört hatte, unwiederbringlich verloren.
Die Klasse johlte, Trösch hatte Mühe, den Pulk zurück in die Bänke zu scheuchen. Irgendwann war jeder wieder in die Rechenaufgaben vertieft. Noch immer glaubtest du, das Brummen des Insekts zu hören, und obwohl du es gar nicht wolltest, hast du dich abermals zu Tanja gedreht, wie um dich mit ihr gegen eine drohende Gefahr zu verbünden, doch sie löste jetzt konzentriert die Bruchrechnungen. Auf der Straße fuhr der Wagen deiner Mutter vorbei. Trösch riss dir die Referatblätter vom Schoß, die schon seit Anfang der Stunde dort lagen, Mathe, Katthusen, knurrte er, hier ist Mathe, nicht Deutsch. Dann klingelte es, und Voss rief zur Nachmittagsschlacht.
◆◆
Sie ist von der Autobahn runter, auf der Elbbrücke stockt der Verkehr, schemenhaft ragen im Nebel die Kräne. Der Wischer schaufelt das Wasser von der Scheibe, kommt kaum gegen den Regen an. Schon Viertel vor zehn. In ein paar Minuten öffnet das Modehaus, dann wartet Herr Kaltenbronn bereits in der Sitzecke, ein sanfter älterer Herr in tadellosen Anzügen, schwerhörig, schwerreich, meistens will er nicht viel und gibt mehr, als er muss. Guten Morgen, Frollein Mira, begrüßt er sie, helfen Sie mir aus diesem billigen Tuch, und bringen Sie mir etwas Feines. Nach was ihm denn heute der Sinn stehe? Ganz nach Ihren Vorstellungen, ruft er laut herüber und winkt mit dem ersten Schein. Sie zieht einen der Seidenschals aus dem Fach, die ihn schnell kirre machen, und schiebt den Greis in die Kabine. Sie, Mira, sei wahrlich ein Wunder, seufzt er und schmiegt sich in den kühlen Stoff. Nicht nur auf die Erlesenheit der Kunden, auch auf Schliff und Benimm ihrer Angestellten legt Siana, die Chefin, großen Wert, und dass sich die sogenannten Künstlernamen ihrer Mädchen in Klang und Stil von den zahllosen Gabys, Rosis und Mizzis aus den Koberfenstern der Herbertstraße unterscheiden.
Auf der Mitte der Brücke kommt der Autotross zum Stehen. Drüben am Kai Blaulicht, Sirenen, ein Unfall. Sie flucht, starrt auf den großen, grauen Fluss, in den Docks die Frachter, in der Ferne manövriert schwerfällig ein riesiges Kreuzfahrtschiff. Sie wird den Termin versäumen, ist zu spät von zu Hause los, hat noch schnell die Wäsche abgenommen, doch das rote Kleid, das sie wieder anziehen wollte, wurdeauch mit dem Föhn nicht ganz trocken, am Kragen spürt sie die Feuchtigkeit. Sie hat es gestern noch schnell in die Maschine gesteckt. Ob der Junge etwas gemerkt hatte? Siana, die in ihren Parfums zu baden scheint, schreibt ihren Mädchen vor, keine oder nur dezente Düfte zu verwenden, damit die Ehefrauen der Kunden nichts wittern, doch an ihr selbst kleben am Abend die Spuren der Aftershaves. Vielleicht war ihre Nachricht keine gute Ausrede, der angebliche Krankheitsfall in der Galerie, die stets für alles herhalten muss, irgendwann, denkt sie, verplappert sich Ute oder sagt, wie es ist: Bist du wieder gesund?, fragst du die Galeristin bei ihrem nächsten Besuch, aber sie sei doch gar nicht krank gewesen, erwidert Ute, und deine Mutter sieht schon dein verblüfftes Gesicht, in den Augen Enttäuschung und Wut, dann hupt der Hintermann und reißt sie aus ihren Gedanken.
Sie tritt aufs Gas, der Wagen säuft ab. Neuerdings ist sie unvorsichtig geworden, macht Fehler, gestern den Anruf vergessen, ein teures
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