Moor
nicht gewusst, dass es für die Tür überhaupt einen Schlüssel gab. Mehrmals war sie an die Schwelle getreten und hatte leise geklopft, doch selbst als sie schließlich am Griff rüttelte, blieb es im Zimmer beunruhigend still.
Sie ging ins Bad, schluckte zwei Lexotax, wärmte in der Küche die Reste vom Allestopf auf und stellte einen Teller vor deine Tür. Dann ist sie rüber in die Scheune, ihr waren ein paar Stellen am Bild eingefallen, die sie verbessern wollte. Als sie gegen Mitternacht ins Haus zurückkam, war die Tür noch immer verschlossen und der Teller voll. Verdammter Sturkopf, rief sie, ein wenig vernuschelt, ihre Zunge klebte pelzig von Zigaretten und Wein am Gaumen. Sie hob den Teller auf, taumelte durch den dunklen Flur und stieß sich den Kopf an einer Kante. Eine ganze Flasche Wein war zu viel des Guten gewesen; zwar hatte sie der Alkohol zusammen mit den Lexotax beim letzten Schliff des Bildes mutiger gemacht, sie war nun mit dem Ergebnis zufrieden. Ihre Haut aber fühlte sich jetzt taub an, ihre Schritte waren taperig und die Bewegungen wie ferngesteuert. Als sie ins grelle Küchenlicht trat, sah sie im ausgelöffelten Teller einen mehligen, madigen Haufen. Ihre Hand begann zu zittern, und das Zeug rieselte über den Tellerrand, winzige Beinchen wimmelten ihr übers Gelenk, zerbrochene Flügelchen flimmerten, abgerissene Schwänzchen zuckten herauf, leer glotzten die Blasenaugen aus dem Brei der zerstampften Larvenhüllen. Der Teller zerschellte auf dem Boden, Scherben und Schuppen spritzten. Sie stürzte stöhnend die Treppe hinauf, die ihr plötzlich steil und wackelig erschien wie eine Leiter. Oben rüttelte sie an der Tür. Was bist du denn für einer?, schrie sie und schlug mit der Faust gegen das Holz. Erst nach Sekunden merkte sie, dass sie vorm Eingang zum Dachboden stand. Sie fuhr herum, stolperte treppab und warf sich am Ende des Flurs mit aller Kraft gegen die Tür deines Zimmers, die so leicht und willig aufsprang, als wäre sie nie verriegelt gewesen, dein Reich dahinter den ganzen Abend für sie geöffnet, einladend wie alle Zeit. Sie schlitterte über die herumkugelnden Einmachgläser, fing sich am Bücherregal ab und starrte auf das leere Bett. Ihr Junge steckte in der Ritze zwischen Matratze und Wand, mit angelegten Armen und eingezogenem Kopf, ein langes, dünnes Bündel wie eine zusammengerollte Decke. Was bist du denn für einer, schüttelte sie dich, was hab ich dir denn getan, dass du so geworden bist?
Wie zerbrochen er sich plötzlich anfühlte. Fast körperlos, erinnerte sie sich nun, hatte er in ihren Händen gehangen – und sie schaute von dir zur Galeristin, dann zu ihrem Gemälde, schließlich wieder zu dir, erschrocken und schaudernd, denn ähnlich brüchig und morsch hatte sie sich damals den Leib der Kinderleiche vorgestellt, deren Skelett von den Torfsäuren längst zersetzt worden war, wohingegen das Moor Haut und Gewebe, sogar die Fingernägel so gut erhalten hatte, dass ein Team von Spezialisten nun mutmaßte, es könnte sich um das Opfer einer rituellen Hinrichtung handeln, wie Dions Vater ihr an einem Morgen aus der Zeitung vorgelesen hatte, wo man dem Fund einen ganzseitigen Artikel widmete. Mittels der Radiokarbonmethode, einer Messung von verbliebenem Kohlenstoff im Leichenkörper, hatte man den Todeszeitpunkt des mittlerweile in einem Formalinbad des pathologischen Instituts schwimmenden Jungen auf das zweite Jahrhundert vor Christus zurückdatieren können, in die Eisenzeit, wo man ihn wahrscheinlich stranguliert und dann in einem Kolk versenkt hatte, eine Vorgehensweise, die, wie der Autor mutmaßte, auf ein Kindsopfer hindeute, einen zwar grausamen, aber zu jenen Zeiten nicht unüblichen Ritus zu Ehren oder zur Beschwichtigung der Götter, wobei die Archäologen und Ärzte sich nicht entscheiden wollten, ob die Verletzungen, die man im Genitalbereich des Leichnams hatte nachweisen können, Gewebsrisse und Hautabschürfungen, vom unsachgemäßenBergungsvorgang durch den Bagger, vom Druck der Erdmassen während der langen Lagerung in drei Metern Tiefe oder aber von einer sexuellen Misshandlung bei oder vor der Opferzeremonie stammten, zumal unter verschiedenen germanischen Völkern der Eisenzeit die Moorhinrichtung eine gängige Ahndung von Sittlichkeitsverbrechen und Kriegsdienstverweigerung, auch von Unzucht zwischen Männern gewesen sein soll, was, so die Wissenschaftler, der sogenannten Strafopferthese entspreche, also die Annahme stütze, dass
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