Moor
war.
In einer Nacht hatte sie mit einem Handtuch über der Faust eine Scheibe in den Fensterquadraten eingeschlagen und den Riegel geöffnet. Das Bild hing unberührt an der Arbeitswand, im geizigen Licht eines Haarnadelmondes, in dem sie,als sie zum Himmel blickte, wie durch eine schwarze, halbtransparente Haut hindurch die verborgene Seite erkennen konnte, die der Erdbegleiter nur denjenigen enthüllt, die zu lange in den Abgrund ihrer Träume starren.
Sie klebte Kartonagen vor die Fenster und rührte in den verkrusteten Näpfen neue Farben an. Schon nach wenigen Pinselstrichen merkte sie, dass die dunkle Erregung, die sie zuvor angestachelt und ihre Sinne geschärft hatte, in Gleichgültigkeit umgeschlagen war. Das Motiv ekelte sie jetzt an, sie fand es pathetisch und in seiner Drastik anbiedernd, ärgerte sich, es nicht an den Holländer verscherbelt zu haben, der ihr eine ordentliche Summe dafür geboten hatte. Sie fetzte die Nesselbahn von der Wand in die Ecke, wo das Bild der Moorkindsleiche bald unter anderen verworfenen Skizzen und unvollendeten Gemälden verschwunden und vergessen war.
Erst zehn Jahre später, als sie für ihre Bewerbung beim Kunstwettbewerb der Hamburger Stiftung aus Mangel an Ideen die Müllberge ihres Ateliers durchwühlte, war es ihr wieder in die Hände gefallen. In ein paar Tagen hatte sie es fertiggestellt, zwar geschickter als damals, doch mehr aus Pflichtgefühl gegenüber ihrem noch immer ausstehenden Erfolg, und außer Dions Vater, der Holländer und vielleicht die Galeristin Ute Hassforther, so dachte sie nun, während sie sich mit einem Ruck von der Kloschüssel erhob, schien bis heute nur der Junge selbst begriffen zu haben, was sich in den Farbschatten des Bildes verbarg: dein von scharfkantigen Balken oder Ästen durchbohrter, von Wurzel- oder Adergeflecht bedeckter und in die einer Nabelschnur ähnliche Schlingpflanze gewickelter Kinderleib, augenlos, ohne Hände und mit einem entrückten, noch zu vollendenden oder bereits wieder vernichteten Gesicht, ein Ausdruck zwischen Schlaf, Vergessen und einer spärlich in die Züge gepinselten Sehnsucht nach Form und Welt, noch im Werden oder schon wieder erloschen, fast, aber nicht ganz tot, bevor du überhaupt zu leben begonnen hast.
Ich will nicht mehr, dass du meine Mutter bist, hörte sie draußen vor der Kabinentür deine Stimme, erschreckend klar und ganz ohne Gehaspel. Als sie endlich aufschloss, hast du in Unterhose vor der Tür gestanden und sie aus geweiteten, in Wut und Tränen schwimmenden Augen angestarrt. Sie stürzte zu dir hin, lass mich!, schlugst du sie weg. In deiner Stimme schwang ein harter und fremder Ton. Sie zog die zertrampelte Hose aus dem Türspalt, zerrte auch das Jackett wieder in Form und versuchte, dich zurück in den Anzug zu packen. Du hast sie festgehalten und ihr in die Hand gebissen. Ihre Ohrfeige knallte durch den kaltweiß gekachelten Raum. Schon im nächsten Moment bereute sie ihren Ausrutscher. Mein armer Liebling, flüsterte sie und beugte sich vor, um die roten Fingerstriemen von deiner Wange zu küssen, doch du hast dich weggedreht und die Zähne gebleckt, so dass sie schon den Hilferuf zu hören glaubte, der im nächsten Moment aus dir herausbrechen und die Menschen in Scharen herbeilocken würde. Fast hätte sie dir die Hand auf den Mund gepresst, bis sie begriff, dass du gar nicht schriest, sondern lächeltest, ähnlich verquält, wie sie selbst einst vor dem großen Spiegel im Modehaus gelächelt hatte, als Siana ihr zeigte, wie man das Leben begrüßt.
Sie folgte deinem Blick und sah in der Tür Ute Hassforther stehen. Ihm ist ein Malheur passiert, sagte sie und deutete zum Pissoir, zu hoch! Die Frau musterte sie und nickte. Wir vergessen oft die Perspektive der Kinder, sagte sie, und einen Augenblick lang schien ihr Gesicht durchsichtig und weich.Dann, als entsänne sie sich wieder ihrer Rolle, die ihr keine Sentimentalitäten erlaubt, vereisten die Züge, sie zupfte eine Fluse vom Rock und ging.
Marga stopfte dich in dein Kostüm zurück. Jetzt hast du’s vermasselt, zischte sie und schloss den obersten Kragenknopf. Dann schob sie dich zur Tür.
Als ihr ins Foyer zurückkamt, stand die Galeristin vor dem Bild deiner Mutter. Die ließ dich schnell los, verlangsamte ihren Schritt und strich über das Kleid, das von dem Gezerre zerknittert war. Dann schlenderte sie wie zufällig hinüber zu Ute Hassforther, zündete sich eine Zigarette an und tat, als betrachtete sie ihr
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